19. Dezember 1943
19.12.43 (?). Wieder bricht ein klarer, kalter Wintertag an. Ich bin gerade beim Bataillons-kommandeur. Da bricht es los![1] Panzer von links! Sie tauchen oben am Rand der Hochfläche auf und beginnen, den Hang herunterzurollen. 3 – 5 – 8 Stück. Sie rasseln direkt auf das Dorf zu. Wenn die Panzer da oben schon sind, dann müssen sie ja die Stellungen der 9. Kompanie schon überrollt haben! Da von Arnim nichts gemeldet hat, ist er wahrscheinlich überrumpelt worden. Immer noch mehr: 10 – 12 – 15. Wieder so ein Überraschungserfolg der Sowjets! Es nimmt gar kein Ende da oben: 18 – 22 – 25! In ganzen Rudeln kommen sie den weiten, flachen Hang herunter gerasselt. Die erste Welle ist noch einen Kilometer entfernt.
Ich hatte diesen Auftakt durch das Fenster beobachtet und wende meinen Blick zum Bataillons-kommandeur, irgend eines Befehls gewärtig. Seine Hände zittern, aber er denkt nicht daran, das Dorf aufzugeben. Er ist unbeugsam und nimmt den ungleichen Kampf auf. Auf dem Tisch steht ein kleiner Rahmen mit der Fotografie seiner Frau und zwei Kindern.
Die Panzer – alles T-34 – rollen den Hang in Wellen herunter. Jetzt eröffnen die ersten das Feuer, ohne stehen zu bleiben. Sie rasseln in voller Fahrt heran und schießen, was aus den Rohren geht. Sie ballern blindlings in das Dorf und die Häuser hinein. Die vordersten Kampfwagen sind noch vierhundert Meter entfernt, da setzt unsere Abwehr ein. Die ersten Einschläge spritzen zwischen den stählernen Kästen auf. Rums! der erste Panzer ist getroffen und bleibt qualmend liegen. Ein zweiter stoppt plötzlich und steht still. Brrruuchch – der dritte Treffer! Mit ohrenzerreißender Explosion schießt eine haushohe Stichflamme aus dem Panzer und entwickelt sich in Sekundenbruchteilen in einen weißglühenden Feuerpilz. Der tonnenschwere Turm schleudert in einem Rauchpilz in die Höhe, wirbelt durch die Luft und schlägt dumpf auf die Erde.
Ich kann nicht erkennen, wer die Treffer erzielt. Ich weiß nur, dass am Dorfende eine Haubitzbatterie mit drei Geschützen steht, dass unsere drei Panzerfahrzeuge irgendwo zwischen den Häusern aufgefahren sind, dass eine 3,7-Pak und vier IG-Geschütze in den Gärten stehen. Und die dreschen erbarmungslos auf die sowjetischen Panzerrudel ein. Schon brennen zwei weitere Tanks, und noch einer explodiert in einem Feuerpilz mit dröhnendem Donner. Aber es sind zu viele. Jetzt haben die vordersten Panzer das Dorf erreicht. Zwei von ihnen kommen nebeneinander mit voller Fahrt herangerasselt, Schnellfeuer schießend. Da brechen sie beide gleichzeitig durch das Eis des verschneiten Baches, der dicht hinter den Gärten vorbei fließt. Ihre Geschützrohre bohren sich in den Boden, und sie stecken hoffnungslos fest. Und zwanzig Meter vor ihnen steht eines unserer Infanteriegeschütze. Die Luken der Panzer fliegen auf, die Besatzungen booten blitzschnell aus und rennen eilig zurück. Da sehe ich plötzlich ein paar deutsche Landser aus dem Garten flitzen und den Iwans hinterher laufen. Es sind Männer unseres IG-Zuges. Sie rennen wahrhaftig zwischen den zertrümmerten, brennenden und angreifenden Panzern hindurch und jagen den fliehenden Iwans nach! Jetzt hat der vorderste Landser den letzten Tankisten erreicht, packt ihn am Genick und reißt ihn herum. Der Russe bleibt stehen. Inzwischen sind die anderen Kameraden an ihnen vorbeigelaufen, holen einen zweiten Russen ein und halten ihn fest. Die andern Iwans entkommen.
Zahlreiche Panzer sind schon waidwund geschossen oder vernichtet. Aber noch immer rollen neue heran. Einige erreichen das Dorf, brechen durch die Gärten, preschen zwischen den Häusern durch und rollen die Dorfstraße entlang. Da rasselt noch so ein Ungetüm heran, genau auf unser Haus zu. Gespannte Sekunden: Wird er eine Granate in das Haus jagen? Nein, er brummt vorbei. Ich stehe hinter der offenen Haustür, während der Stahlkoloss in drei Meter Entfernung an mir vorüberrasselt. Der Kommandant steht im Turmluk und blickt gespannt nach vorn.
Sie kurven auf der Dorfstraße herum. Viele sind es nicht mehr. Sie suchen die Feuerstellungen unserer Geschütze, die in den Gärten unter Bäumen ver••• S. 162 •••steckt sind. Da drehen zwei von ihnen plötzlich ab und fahren auf der anderen Seite des Dorfes in die freie Ebene hinaus. Ich folge mit den Blicken ihrer Fahrtrichtung. Da sehe ich weit draußen auf dem Feld einige unserer Landser laufen. Sie hatten die Nerven verloren, waren aus den Häusern oder ihren Stellungen gesprungen und laufen nun über das freie Feld zurück, nach hinten. Die sind verloren! Der Panzer hat sie erkannt und rasselt ihnen nach. Er ist viel schneller als sie und hat sie bald eingeholt. Nun jagt er sie vor sich her und schießt sie mit seinem MG wie Hasen ab. Andere fasst er durch einen kurzen Seitenruck mit der Kette und zermalmt sie im Schnee. Kein einziger entkommt ihm. Dann wendet der Koloss und kommt zum Dorf zurück. Er scheint eine raffinierte und kampferfahrene Besatzung zu haben, denn er fährt dauernd im Zickzack und vermeidet jede Blöße. Nun hat er das Dorf wieder erreicht und brummt, nach Opfern suchend, die Dorfstraße entlang. Da aber ereilt ihn sein Schicksal. Er stößt auf unsere Pak, die dort in einem Garten steht. Bevor er sie erkannt hat, brennt sie ihm aus dreißig Metern Entfernung einen tödlichen Schuss in den stählernen Leib. Der Panzer stockt mitten auf der Straße und gerät in Brand, bevor die Besatzung aussteigen kann.
Der Panzerangriff ist zusammengebrochen. Der Hang ist übersät mit brennenden und qualmenden Panzerwracks. Auf der Dorfstraße und zwischen den Bauernhäusern liegen die vernichteten und kampfunfähigen Stahlkolosse. Und während die Wracks knisternd ausbrennen, wackeln die letzten zwei Überlebenden leicht rauchend zur russischen Front zurück, bis sie oben hinter dem Rand des Hanges verschwinden.
Der Angriff ist restlos zusammengeschlagen. Von den 25 angreifenden Panzern haben wir innerhalb einer Stunde 23 abgeschossen!
Dieser Erfolg ist umso bemerkenswerter, als wir den fünfundzwanzig Panzerkanonen nur neun Geschütze mit gleichwertigem Kaliber entgegensetzen konnten. Es ist kaum zu fassen, dass diese Panzer nicht in der Lage waren, unser kleines Dörfchen zu erobern. Es fehlte eben die sowjetische Infanterie, aber auch die konnte bei unseren Stellungen auf dem Höhenzug keinen entscheidenden Durchbruch erreichen. So ist dieser grandiose Abwehrerfolg letzten Endes wiederum der bewundernswerten Widerstandskraft unserer Soldaten zuzuschreiben.
Bei der Abwehr dieses Angriffs war nur eine einzige 3,7-Pak beteiligt. Unsere Panzerabwehr ist weit hinter der russischen Panzerentwicklung zurück geblieben. Wir kämpfen heute noch weitgehend mit der 3,7-Pak (oder 5 cm), die nur zu Kriegsbeginn ausreichend war, während die Russen ihren neuen starken T-34 bereits in der Serienproduktion haben. Der ist mit der 3,7 kaum zu knacken und für unsere Infanterie ein wahres Schreckgespenst.
Unsere eigenen Verluste im Dorf sind gering. Nur die Davongelaufenen sind tot. Es waren fünf Mann. Während wir auf dem Bataillonsgefechtsstand noch unsere Eindrücke und Erfahrungen über den Angriff austauschen, sehe ich auf der Höhe eine Gruppe von Gestalten auftauchen. Sie tragen deutsche Tarnbekleidung. Sie bleiben einen Augenblick beobachtend stehen und kommen dann langsam den Hang herunter. Dann erkenne ich durch das Glas Leutnant von Arnim mit acht seiner Leute. Sein Kompanieabschnitt war es, über den der Panzersturm hinweg gebraust war. Seine Männer hatten im ersten Schreck die Nerven verloren. Die meisten von ihnen hatten die Stellungen verlassen und waren nach rückwärts geflohen. Das ist das Falscheste, was man machen kann, denn nun hatten die Soldaten die schützenden Löcher verlassen und liefen über die freie, deckungslose Fläche, während die Panzer gemütlich hinterher fuhren und die Fliehenden niedermähten. Nur ein Teil der Kompanie war in den Löchern geblieben, und dieser überlebte den Sturm. Es waren noch 25 Mann.
Die 11. Kompanie hatte es vor einigen Tagen richtiger gemacht. Sie war in ihren Löchern geblieben, hatte sich von den Panzern überrollen lassen und hatte nur wenige Verwundete bei dem nachfolgenden Gefecht mit der sowjetischen Infanterie.
Wenn Panzer in solchen Mengen auftreten, dann haben sie den Auftrag, tief ins feindliche Hinterland einzubrechen. Dann können sie sich nicht mit den Infanteristen herumschlagen, sondern sie überrollen die vordere Linie und stoßen in die Tiefe der feindlichen Front. In solchem Fall braucht der Infanterist vorn nur zweierlei: Ein gutes, tiefes Deckungsloch und die Nerven, den Panzer über sich hinweg oder vorbeirollen zu lassen. Dies ist gewiss leichter gesagt als getan, aber es ist das einzig Richtige. Die Auf••• S. 163 •••gabe des Infanteristen ist die Bekämpfung der feindlichen Infanterie, die den Panzern folgt. Den Kampf gegen die Panzer führen die schweren Waffen, die weiter hinten stehen (sollen!).
Natürlich gibt es auch viele Ausnahmesituationen. Zuweilen haben sich die Panzer über ein Deckungsloch geschoben und solange im Kreis gedreht, bis die Soldaten unten zermalmt waren. Es ist auch vorgekommen, dass Panzer mit sowjetischer Infanterie an unserer Stellungslinie entlangfuhren und die Landser aus den Löchern herausholten. (Auf diese Weise ist Fritz Schulz in Gefangenschaft geraten. Der arme Kerl sollte ja noch einen kurzen Fronteinsatz mitmachen und dann auf einen OA-Lehrgang geschickt werden. Und ausgerechnet in diesen wenigen Wochen ereilt ihn das Schicksal.) Aber solche Kapriolen konnten sie sich nur leisten, wenn sie keine panzerbrechenden Waffen zu befürchten brauchten.
Nach dem zerschlagenen Panzerangriff werden die gefangenen Tankisten beim Bataillon verhört. Der erste ist ein langer, hagerer Kerl, aus dessen braunem, ölverschmierten Gesicht die weißen Augäpfel leuchten. Ich kann dem Verhör nicht beiwohnen, weil ich einen Auftrag zu erfüllen hatte. Aber später erfuhr ich, dass er das bestätigt hat, was wir eigentlich schon wussten oder geahnt hatten: Die Panzerrudel hatten unsere vordere Linie überrollt und unser Dorf angegriffen. Gleichzeitig stürmte nachfolgende sowjetische Infanterie gegen die Stellungsfront unserer 9. und 10. Schützenkompanie auf den Höhen. Ziel der Operation war die Vernichtung unserer Bataillons-Front und ein tiefer Durchbruch ins Hinterland. Dieser Plan war gescheitert.
Immerhin hat der schwere Angriff die Gemüter unserer Soldaten doch etwas erschüttert, denn als die zwei Sturmgeschütze heute früh das Dorf verlassen, werden sie unruhig. Aber die Geschütze wollen beim Regiment in Kitaigorodka nur munitionieren.
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ Großangriff auf die Front des XXX. A.K. führt zu örtlichem Einbruch bei Mendelejewka (KTB PzAOK 1, NARA T-313 Roll 62 Frame 7297715, ist wie im KTB OKW der Vortag gemeint?). Nahkampftage am 19. und 21.: Soldbuch Vordruck II, s. a. Benary S. 151 f.