Epilog
Neubeginn
Nach der Heimkehr musste mein Vater sein Leben neu ordnen. Es galt, die körperliche Leistungsfähigkeit wiederherzustellen und Wohnung und Arbeit zu finden. Kurz nach seiner Rückkunft wurde er entnazifiziert. Sehr bald gelang es ihm bereits, eine Wohnung in Warendorf zu mieten. Er erhielt eine Anstellung als Lehrer in der nahegelegenen Großstadt Münster, wo er an verschiedenen Schulen unterrichtete, bevor er seine endgültige Wiederanstellung am Wilhelm-Hittorf-Gymnasium erhielt. Ein Fotoalbum im Internet dokumentiert sein Arbeitsleben.
Zunächst fuhr er jeden Tag mit dem Zug. 1954 baute er in Münster mit Hilfe mehrere Kredite ein Eigenheim. Als sie im April einzogen, war meine Mutter bereits mit mir schwanger. Als ich am 06.11.1954 geboren wurde, hatte mein Vater endlich das ersehnte eigene Kind.
Viel Zeit verbrachte mein Vater mit der Niederschrift des vorliegenden Tagebuchs, das er wenigstens einmal vollständig überarbeitete, denn es existieren noch heute zwei verschiedene Fassungen, eine im Stadtmuseum Münster und eine mehr Seiten umfassende, also neuere, bei mir. Für die Reinschrift ließ er eine Schreibmaschine der Marke „Erika“ mühevoll aus der DDR importieren, aber er war dann doch enttäuscht, weil er sich aufgrund einer Vorkriegserfahrung eine kleinere Schrifttype erhofft hatte.
Kriegsfurcht
Mein Vater lebte in ständiger Furcht vor einem neuen Krieg.
Während der Schulzeit musste ich daher einen Russisch-Kursus besuchen, damit ich in einem solchen Krieg besser zurecht käme.
Nach der Schule wurde ich zum Wehrdienst einberufen. Weil Offiziere es in der Kriegsgefangenschaft besser hätten, musste ich mich als Reserveoffizier bewerben. Mein Vater erlebte meine Ernennung zum Leutnant und später Oberleutnant der Reserve. 1987 starb er, 1990 folgte ihm meine Mutter nach.
Ehrensache
Während meiner Beschäftigung mit dem Tagebuch und mit der Geschichte des zweiten Weltkriegs sind mir einige Dinge bewusst geworden, die noch gesagt werden müssen.
Verbrechen der Wehrmacht
Es wird viel darüber diskutiert, inwieweit die Wehrmacht in die Verbrechen der Nazis verstrickt war. Die Behauptungen gehen von „gar nicht“ bis „jeder Soldat“. Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte, und es ist kaum möglich, eine Grenze zu ziehen. Ich kann hier nur betonen, dass mein Vater nur vereinzelt von Verbrechen von Wehrmachtsangehörigen berichtet.[1] Diese Fälle sind eher auf Zügellosigkeit, jedenfalls nicht auf entsprechende Befehle zurückzuführen. Befehle zur Begehung von Kriegsverbrechen hat es gegeben, auch seitens von Reichenau, ab Dezember 1941 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, der mein Vater angehörte, aber sie sind nicht bis zu ihm hinunter bekannt oder in seinem Beisein ausgeführt geworden.
Selbst die sowjetische Seite hat einen Unterschied gemacht. Die Anklagen in den Ende 1949 verstärkt einsetzenden Kriegsverbrecherprozessen richteten sich außer gegen Generale, Oberste, Generalstabsoffiziere und die Abwehr hauptsächlich gegen Sicherungseinheiten, rückwärtige Kommandanturen, Feldgendarmerie, Richter, Gefangenenlagerpersonal usw.,[2] in deren Bereich Kriegsverbrechen offenbar derart systematisch verübt worden waren, dass pauschale Anklagen und Verurteilungen gerechtfertigt erschienen. Dies wurde demnach bei den Fronttruppen nicht angenommen.
Behandlung der Kriegsgefangenen
Es kann meinem Vater und seinen Kameraden nicht verübelt werden, dass sie sich über die schlechte Behandlung als Kriegsgefangene beklagt haben. In der Diskussion werden aber meistens wichtige Aspekte verschwiegen.
- Die Nazis haben ihren Kriegsgefangenen nicht einmal den Status als Mensch zugebilligt, sondern sie als Untermenschen diffamiert, was psychologisch geschickt die Rechtfertigung lieferte, um sie noch schlechter zu behandeln. (Dies galt vielleicht erst ab der Stufe der großen Gefangenenlager, im Umfeld meines Vaters jedenfalls nicht; er nahm zwar die weniger entwickelte Zivilisation wahr, achtete aber die Menschen.)
Hieraus ergibt sich ein Rache-Motiv, das im Fall einzelner sowjetischer Bewacher nie ausgeschlossen werden kann, aber vom System her zwar für das Zurückhalten der Gefangenen nach dem Krieg mitbestimmend gewesen sein wird, ohne dass es eine offizielle Richtschnur für die Behandlung der einzelnen Gefangenen bildete. - Der sowjetischen Bevölkerung ging es kaum besser. Die Butter, die sich mein Vater als Gefangener kaufte, konnte sich wohl nicht jeder Bürger leisten. Dass dann den Gefangenen nur der unterste Status zugebilligt wurde, war nicht ungerecht.
- Ärgernisse wie Plünderung der Gefangenen gab es auf allen Seiten.
Zeiten mit und ohne Gefecht
Von Anfang an fiel mir auf, in wie wenige Gefechte oder Schlachten mein Vater verwickelt war. Nur teilweise erklärt sich das daraus, dass die 257. Infanterie-Divisison meist den an der Spitze kämpfenden Divisionen hinterhereilte und mein Vater zudem während des halben Vormarschs zur Führerreserve gehörte. Ferner hatte er zweimal das Glück, gleich zu Begin eines Gefechtes verwundet und in die Heimat gebracht worden zu sein. Aber auch der Spruch aus meiner eigenen Soldatenzeit hat seine Berechtigung: „Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens.“
Panzer oder Infanterie
Das Bild der Wehrmacht wird häufig von Panzern dominiert. Viele Militärschriftsteller legen ein Schwergewicht auf die Darstellung der Panzerwaffe. Das ist verständlich, da sie eindrucksvolle Technik bietet, die leicht erforscht werden kann. Was dabei in den Hintergrund tritt, ist die Tatsache, dass der weit überwiegende Teil des Heeres zu Fuß unterwegs war, die Führer zu Pferde und die Fahrzeuge bespannt. Es gab 499 Infanterie-Divisisonen[3] und nur 73 Panzer- und Panzergrenadier-Divisionen[4]. In einer Infanterie-Division gab es planmäßig rund 5000 Pferde und nur knapp 1000, 1944 nur noch 600 Kraftfahrzeuge.[5] Im Frontbogen zwischen Kriwoi Rog und Nikopol gab es Anfang 1944 zwei Panzer-Divisionen, die keinen einzigen einsatzbereiten Panzer mehr hatten;[6] eine verfügte bald wieder über 7,[7] das ist weniger als eine moderne Panzerkompanie. Zur ohnehin nur gelegentlichen Unterstützung der Infanterie wurden auch schon z. B. im März 1942 während der schweren Abwehrkämpfe um Slawjansk jeweils nur 1–2 Panzer oder Sturmgeschügtze genehmigt.
Unterschiede der kollektiven Erinnerung
Eines noch am Rande: Wie sich die Erinnerung oder rückschauende Gewichtung doch unterscheidet. Auf alliierter Seite ist die Operation Bagration geläufig, der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte, der von den Deutschen – wohl aus Scham – keinen besonderen Namen erhielt, während die sechs Kurladschlachten, in denen die Deutschen mit Stolz Stand gehalten, aber eigentlich nichts Entscheidendes erreicht haben, keinen besonderen englischen Namen haben.
![]() Später gab es eine Frackkette mit den wichtigsten Auszeichnungen in entnazifizierter Form (ohne Hakenkreuze, d.h. frühestens 1958): Verwundetenabzeichen in Silber / Medaille Winterschlacht im Osten 1941/42 / Infanterie-Sturmabzeichen -Silber- / Eisernes Kreuz 2. und 1. Klasse |
![]() (1960er Jahre) Die Orden und Abzeichen des Autors:[8] 1. Reihe: Eisernes Kreuz 1. Klasse 2. Reihe: Nahkampfspange I. Stufe (Bronze) 3. Reihe: Eisernes Kreuz 2. Klasse / Verwundetenabzeichen in Silber / Infanterie-Sturmabzeichen -Silber- / Medaille Winterschlacht im Osten 1941/42 4. Reihe: Ärmelband „Kurland“ |
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Originalmanuskript |
- ↑ 2 Fälle von Tötung eines verwundeten Russen, 2 Fälle von Misshandlung Gefangener und 5 Fälle von Plünderung im Verlauf von 4 Jahren und in dem von ihm überschaubaren Umfeld einer Kompanie von 100–200 Mann
- ↑ Cartellieri S. 321 f.
- ↑ 16 Namensverbände, 315 nummerierte, 7 leichte, 31 Grenadier-, 82 Volks-Grenadier-, 14 Gebirgs-, 1 Skijäger-, 13 Jäger-Divisionen, 18 Feld-Divisionen (L), 2 Luftwaffen-Sturm-Divisionen, dazu unzählige Schatten-, Volks-Sturm-, Luftlande-Infanterie-, Sicherungs-, Landwehr-, Landesschützen-Divisionen, Divisionen z.b.V., Infanterie-Divisionen des RAD u.a.m., vielleicht nicht alle gleichzeitig (Quelle: Lexikon der Wehrmacht)
- ↑ 15 Namensverbände, 33 nummerierte, 8 leichte Panzer-Divisionen, 1 Panzerjagd- und 16 Panzergrenadier-Division (Quelle: Lexikon der Wehrmacht)
- ↑ Handbook on German Military Forces (War Department TM -E 30-451, 15 March 1945) S. II-11 Fig. 6
- ↑ 16. Pz.Gren.Div. und 23.Pz.Div. [irrtümlich: Pz.Jg.Div.] am 03.02.1944 gem. KTB AOK 6 Bd 10 Frame 000681
- ↑ 23. Pz.Div. am 12.02.1944 gem. KTB XXX.AK, NARA T-314 Roll 833 Frame 000631
- ↑ Sie in einem Schaukasten anzuordnen waren eine Geschenkidee von mir. Es sind alles Nachkriegserwerbungen, nicht nur das Ärmelband, das für dieses Display neu angefertigt wurde, denn die Originale mussten am 19.11.1945 im Lager Salaspils abgeliefert werden.