19. Februar 1944
Gestern abend war mit der Verpflegung noch ein Karton Schokolade für uns herunter gekommen. Die habe ich jetzt verteilt. So beginnt der neue Tag nach einem halbwegs erholsamen Nachtschlaf mit einem kleinen Leckerbissen zum üblichen frugalen Frühstück. Auch der Artillerieleutnant hat selbstverständlich einen Riegel abbekommen. Wir müssen uns die Artillerie warm halten! Der Schützling der Heiligen Barbara lässt dann sicherheitshalber noch drei Schuss auf den Sperrfeuerraum vor unseren Bunker setzen. Er hat den Hörer in der Hand: „Abschuss!“ – Bruch! „Weit – Entfernung 3100 – Abschuss!“ – Sssiiu-Bruch! Der saß nah! 20 m vor dem Bunker! Das genügt uns.
Der Morgen ist grau, der Himmel von tieffliegenden Wolken verhangen. Es hatte die ganze Nacht geschneit. Ich steige zur Tür hinaus und blicke die Front entlang. Heftiges Schneetreiben fegt schon wieder über das Land. An einigen Stellen erkenne ich einzelne Gestalten, die mit Schaufeln hantieren. Das sind die Posten, die die Bunkereingänge freihalten müssen. Sie haben schon die ganze Nacht geschippt und dabei nicht mehr erreicht als gerade den Eingang offen zu halten, denn es fiel genau so viel Schnee vom Himmel herunter, als sie gerade immer wegschaufeln konnten. An Wache und Beobachtung war dabei nicht zu denken.
Es ist eiskalt.[1] Die Erledigung der täglichen Notdurft draußen ist ein echtes Problem.
Abends löst uns derselbe Zug ab, der von den Russen hier hinausgeworfen worden war. Es sind 30 Mann der IG-Kompanie. Da sie im Grabenkampf völlig unerfahren sind, ist ihre Unsicherheit groß und ihre Standhaftigkeit gering. Ich sammle meinen Zug und kehre zum Bataillon zurück. Auf Anweisung des Regiments sollen wir nicht dorthin zurückkehren, sondern gleich vorn beim Bataillon bleiben, um im Alarmfall schneller zur Stelle zu sein. Ich beziehe daher mit meinem Kompanietrupp und einer Reservegruppe gemeinsam einen Bunker. Der Kompanietrupp besteht zur Zeit nur aus einem Melder, einem Gefechtsschreiber und einem Sanitäter, die Reservegruppe aus 6 Mann.
Der Batailloner ist ein Nervenbündel. Ich bin eben erst von unten herauf gekommen und habe die Männer kaum auf die Bunker verteilt, da ruft er schon an und will die Gerätemeldung haben. Da die Gruppen noch nicht einmal Zeit zur Meldung hatten, kann ich ihm noch nichts sagen. Er aber drängt: „Sie müssen doch eine ungefähre Übersicht haben. Ich muss doch dem Regiment Meldung machen!“ (Er hätte besser sagen sollen: ‚Ich möchte dem Regiment schnellstens Meldung machen, damit sie dort sehen, was ich für ein fixer Kerl bin!‘) Also gebe ich ihm eine ungefähre Übersicht. Es fehlen tatsächlich ein MG und einige Munitionskästen. Da platzt er förmlich vor Entsetzen über diese Verluste. Er schreit so laut in die Muschel, dass ich sie weit vom Ohr weghalte. Zweifellos ist der Verlust ärgerlich, aber es hätte ja noch viel schlimmer sein können. Durch das Gebrüll bin ich nun auch kribbelig geworden. Abends schicke ich den verantwortlichen Gruppenführer und den Munischützen mit dem Verpflegungsschlitten hinunter, damit sie das Verlorene suchen. Eine Stunde später sind sie schon wieder zurück, natürlich unverrichteter Dinge. Zweifellos ist es fast unmöglich, das Zeug jetzt in dem tiefen Schnee wiederzufinden. Ich bin aber ziemlich sicher, dass sie gar nicht erst gesucht haben. Ich habe sie auch im Verdacht, dass sie das schwere Gerät absichtlich im Schnee haben stehen lassen, um es nicht weiterhin schleppen zu müssen.
Natürlich ist zunächst der Gruppenführer und dann der Zugführer für sein Gerät verantwortlich. Aber letztlich bleibt die Verantwortung beim Kompanieführer hängen. Es sei denn, der ist so clever, die Verantwortung seinen Untergebenen anzulasten. Der Kompanieführer muss seine Unterführer eben entsprechen erziehen. Aber wie soll ich das z. B. bewerkstelligen, wenn ich außer meiner eigenen Kompanie immer wieder auch noch eine zweite und dritte Kompanie unterstellt bekomme, deren Männer ich nie kennenlerne, weil ich sie nach einigen Wochen schon wieder abgebe? Außerdem ist die Truppe von heute nicht mehr die von 1939.
Bei unseren Nachschubschwierigkeiten ist der Verlust von Waffen und Gerät eine ernste Angelegenheit, und ich bin der letzte, der solche Schlamperei ••• S. 187 •••auf die leichte Schulter nimmt. Aber ein Angriff bei solchem Schneesturm ist auch außergewöhnlich und geht eben nicht ohne Verluste ab. So einfach, wie sich der Herr Oberleutnant oben in seinem warmen Bunker das vorstellt, geht es nicht. Der hat noch nie einen Graben im Sturm genommen. Wir haben beidem Unternehmen zwei Tote und vier Verwundete gehabt. Darüber hat der Kerl nicht ein einziges Wort verloren!! Ich koche vor Wut und bin zur Zeit nicht zu genießen.
Heute abend ist nach langer Zeit wieder einmal Heimatpost gekommen. Ich habe 14 Briefe dabei, alle von Carola. Das besänftigt mich ein wenig. Die Briefe sind alle sehr lang. In einem liegt ihr Bild in Postkartenformat. Carola! Während ich noch in den Anblick meiner Verlobten vertieft bin, kommt der Adju herein. Ich rede mir nun meinen ganzen Zorn vom Leibe. Er wird das ja alles seinem Chef nachher wieder erzählen, was ich von ihm und der ganzen Sache halte. Aber das soll er auch. Dann sprechen wir von persönlichen Dingen und erinnern uns an unsere gemeinsam verlebte Zeit bei der Försterei und in Frankreich. Da erblickt er Carolas Bild und nimmt es in die Hand. „Mensch, Anerkennung,“ platzt er heraus, „Wissen Sie, mit so einer Verlobten würde ich mich über den Batailloner nicht ärgern!“ Dann ging er.
Ich stehe draußen vor der Bunkertür. Unten in dem dämmerigen Bunker sitzt der Gefechtsschreiber am Tisch und schreibt. Er hat drei brennende Kerzen vor sich stehen. Da höre ich, wie der Sanitäter zu ihm sagt: „Mensch, lass’ nicht so viel Kerzen brennen. Wenn der Alte das sieht, wird er verrückt!“[2]
Unglaublich, wie leicht man sich verirren kann! Vor zwei Minuten habe ich den Bunker zu einer kurzen Verrichtung verlassen. Ich war die Treppe hinaufgestiegen, bin noch etwa zehn Meter weitergegangen und dann stehen geblieben. Die Winternacht ist so hell, dass man einige hundert Meter im Umkreis sehen kann: Eine weiße, tiefverschneite Landschaft. Dann drehe ich mich um und gehe die wenigen Schritte zum Bunker zurück – aber ich finde den Eingang nicht! Ich gehe noch ein paar Schritte vorwärts, dann wieder zurück. Ich wende mich vorsichtig etwas nach links, dann nach rechts. Nichts! Ich bleibe stehen und blicke aufmerksam in die Runde. Der Bunkerhügel müsste doch zu erkennen sein. Aber der tiefe Schnee hat alles unter einer gleichförmigen Decke begraben. Ich lausche. Hier in der Nähe sind doch mehrere Bunker, in denen 35 Mann untergebracht sind. Da muss doch mal ein Laut zu hören sein. Nichts. Da, endlich, taucht ein Landser aus der Schneedecke empor, als wenn er der Erde entstiege. Er kommt aus einem der Mannschaftsunterstände, zwanzig Meter entfernt. Wahrscheinlich hat er dasselbe vor wie ich. Nun kann ich mich orientieren und finde mein Erdloch wieder. Genauso lautlos, wie der Landser aufgetaucht ist, verschwinde ich wieder von der Erdoberfläche und tauche durch den schmalen Spalt hinab in die Wärme des Bunkers in der Erde unter der dicken Schneedecke.
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Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ am 18. noch -1°C, am 19. -5 bis -6° und Schneesturm (KTB 6. A. NARA T-312 Roll 1493 Frame 000259/99)
- ↑ Eine ähnliche Situation beschreibt der Autor im Feldpostbrief vom 01.11.1945 an seine Frau.