17. Februar 1944

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Chronik 40–45

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik 45–49

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

English

18.2.44.[1] Ich erwache mitten in der Nacht. Mir war, als hätte ich einen Abschuss gehört. Draußen heult der Sturm. Mit offenen Augen starre ich in die Finsternis und lausche. Mich fröstelt. Es muss sehr kalt geworden sein. Gegen das Fenster tupft ein feines, leises Rieseln. Schneesturm![2] Er fährt mit Heulen und Brummen um meinen Unterstand und rüttelt wütend an der klappernden Tür. Ich krieche tiefer unter meine Decke. Nur jetzt nicht heraus müssen! Da – tatsächlich – unsere Artillerie schießt! Es ist die Batterie hier in unserer Nähe. Wie ein dumpfer Paukenschlag dringt der Abschuss durch das Brausen des Windes. Es klingt sonderbar gedämpft. Wieder ein Abschuss. Da ist vorn etwas nicht in Ordnung. Das fehlte gerade noch, wenn jetzt der Iwan käme. Verwunderlich wäre es nicht, denn er sucht sich ja mit Vorliebe solches Wetter für seine Aktionen aus. Er ist dann im Vorteil, denn Wind und Sturm kommen meist aus Osten, und das verdammte Schneetreiben schlägt uns immer ins Gesicht und behindert die Beobachtung. Außerdem ist der Russe härter gegenüber Witterungseinflüssen. Hoffentlich schaffen sie es allein da vorn, denn sonst müssen wir womöglich noch heraus. Wir sind ja Reserve.

Waren das nicht Schritte? Ich hebe lauschend den Kopf. Das ist das dumpfe Knirschen von Schritten, die durch den Schnee stapfen. Jetzt sind sie heran, und schon donnert eine Faust gegen die Tür: „Herr Leutnant, Alarm! Kompanie sofort fertigmachen! Melden Sie sich beim Kommandeur!“ Verdammte Schweinerei! Das hat mir noch gefehlt! Ich steige eilig in die Kleider, schnalle um und gehe hinaus. Der Sturmwind nimmt mir fast den Atem. Ich stapfe durch den Schnee zum Kommandeursbunker. Oberst[3] Haarhaus sitzt mit seinem Adjutanten am Tisch. Ich grüße, und er gibt mir mit kurzen Worten die Lage bekannt : „Der Russe ist im Abschnitt der 11. Kompanie eingebrochen und hat den Graben in etwa zweihundert Metern Breite besetzt. Sie müssen ihn wieder hinauswerfen. Beeilen Sie sich!“ Ich gehe zur Kompanie zurück. Die Männer waren schon von dem Melder alarmiert worden und sind beim Fertigmachen. Zwanzig Minuten später gehe ich mit dem ersten Zug los, nachdem ich mich beim Kommandeur abgemeldet habe. Der zweite Zug soll noch Handgranaten empfangen und dann nachkommen. Nach wenigen hundert Metern führt der Weg aus der Mulde den Hang hinauf. Dort, wo er den oberen Rand der Mulde erreicht, steht ein Strohschober. Hier mache ich halt, um den zweiten Zug zu erwarten. Nach einiger Zeit ist er heran, und wir setzen den Weg in Richtung Front fort.

Es sind nur zwei Kilometer bis zum Bataillon, aber der Weg ist völlig verschneit. Der Schneesturm nimmt mir jede Sicht. Der Kompass nützt auch nichts, weil es in diesem weißen Nichts keinerlei Anhaltspunkte gibt. So taste ich mich mühsam vorwärts, mich auf Instinkt und ein bisschen Kombination verlassend. Ich laufe an der Spitze der Kompanie. Das Gehen strengt an, denn ich muss als erster einen Weg durch den hohen Schnee bahnen. Der Sturm erschwert das Atmen und die Sicht. Und was ich sehe, ist flaches, grenzenloses, weißes Feld, ohne jeden Anhaltspunkt, verschleiert durch Wolken von wirbelndem Schnee. Inzwischen dämmert der Morgen herauf, und in dem fahlen Licht wird die Sicht etwas besser. Endlich stehe ich vor einer Mulde, die meiner Schätzung nach den Bataillonsgefechtsstand beherbergen könnte. Der Geländeform nach könnte es die richtige sein, aber ich sehe keinen Bunker, keinen Rauch, keine Menschen. Der Schnee hat alles zugedeckt, und der Sturm ist mit glättendem Besen darübergefahren. Als ich die Mulde vor einigen Tagen verließ, war sie schneefrei und dunkel. Jetzt liegt eine dicke Schneedecke über dem Land, die alle Oberflächenformen eingeebnet und mit einförmigem Weiß überzogen hat. Schließlich entdecke ich einen Bunkereingang. Ich weiß nicht, ob mich mein Instinkt oder ein gütiges Geschick hierher geführt hat, jedenfalls sind wir an der richtigen Stelle. Nun finde ich mich sofort zurecht und melde mich beim Russenmüller, der jetzt das Bataillon führt. Ich erfahre Einzelheiten über die augenblickliche Lage und richte danach meinen Angriffsplan ein.

War schon der Anmarsch durch Schnee und Sturm nach einer nur halben Nachtruhe kräfteraubend, so geht es jetzt erst richtig los. Es wird nur ein Zug ••• S. 183 •••angreifen. Ich will auch nicht frontal auf den besetzten Graben losgehen, sondern werde ihn aus der Flanke aufrollen, und zwar vom Abschnitt der 10. Kompanie aus, den ich ja selbst lange besetzt hatte und das Gelände daher gut kenne.

Ich steige im jagenden Wirbel der Schneeflocken zur 10. Kompanie hinunter und gehe in den altbekannten Bunker, in dem ich zu meiner Überraschung Leutnant von Arnim antreffe, der die Kompanie jetzt führt.[4] Er berichtet mir, dass die Sowjets bereits die Einbruchstelle bei der 11. Kompanie erweitert hätten und in seinen Kompanieabschnitt eingedrungen waren und einen Teil seines Grabens besetzt hatten. Leutnant X hat sie aber inzwischen mit seinem Pionierzug[5] im Gegenstoß wieder hinausgefeuert. Ich drehe mich nach dem Leutnant um. Es ist der Leutnant mit der Hornbrille, mit dem ich aus Meseritz gekommen war. Er sitzt in einer Ecke auf dem Boden und zieht schweigend und lässig an seiner Zigarette.

Der Abschnitt der 10. Kompanie ist also feindfrei. Er reicht bis an den kleinen Hügel, in dem sich noch ein Bunker befindet. An dem Hügel macht der Graben einen fast rechtwinkligen Knick nach rückwärts, und von da ab sitzt der Iwan noch im Graben. Es ist dieselbe Stelle, an der damals der Stoßtrupp eingedrungen war und meinen Spieß erwischt hat. Unser derzeitiger Bataillonsabschnitt eignet sich auch besonders gut für solche Überfälle, denn die beiden Frontlinien kommen sich hier ganz besonders nahe. An manchen Stellen ist der russische Graben kaum mehr als dreißig Meter entfernt.

Also los! Ich folge dem Graben in Richtung auf den Hügel hin. Hinter mir stapfen die Männer durch den Schnee. Der Graben bietet keinen Schutz mehr, denn er ist völlig zugeweht. Aber das dichte Schneetreiben deckt uns vor Feindsicht. Immer wieder steigen wir über die frischen Leichen von Rotarmisten, die vor einer Stunde bei dem Gegenstoß des Pionierzuges gefallen sind. Es sind junge Kerle dabei. Die Pioniere haben ja ordentlich aufgeräumt!

Zugführer Ritterkreuzträger Stabsfeldwebel Friedrich-Karl Warwel

Wir haben den Hügel erreicht. Ich steige schnell in den Bunker, um das Bataillon vom Beginn meines Gegenstoßes zu unterrichten. Der zweite Zug setzt inzwischen zum Angriff an. Der Zugführer ist Ritterkreuzträger[6], ein Gruppenführer trägt das EK I. Es ist derselbe Unteroffizier, der damals im Christischtscher Wald das MG-Nest der Roten mit einer Wurfgranate aus der Leuchtpistole vernichtet hat.

Ich kurbele am Feldfernsprecher. Der Russenmüller meldet sich. Wir wechseln einige Bemerkungen, wobei er mir rät, den Gegenstoß selbst zu führen und nicht dem Zugführer zu überlassen. Das ärgert mich. Wenn ich ihn nicht hätte selbst führen wollen, wäre ich gar nicht erst mit heruntergegangen. Da nur ein Zug angreift, brauchte ich als Kompanieführer sowieso nicht unbedingt dabei zu sein. Aber ich muss zugeben, dass das Telefongespräch nicht wichtig war. War es vielleicht doch ein Anflug von Angst und Zögern, und das Telefonat nur eine Ausrede?

Ich verlasse den Bunker und gehe an dem Posten vorbei, wobei ich gewohnheitsmäßig einen Blick zum Feind hinüberwerfe. Da sehe ich zufällig durch ein Loch in den wogenden Schneemassen einen Russen herumlaufen. Er ist ca. achtzig Meter entfernt und hantiert dort in seiner Stellung herum. Auch der Posten hat ihn gesehen, steht aber reglos da, die Hände in den Manteltaschen vergraben, das Gewehr auf dem verschneiten Grabenrand. Ich brülle ihn an, warum er nicht schießt? Die Roten haben Scharfschützen drüben, die jeden von uns abknallen, den sie vor ihre Flinte bekommen. Und unser Posten guckt zu, wie der Iwan da drüben herumspaziert! Der Posten ist ein ganz junger Kerl, und der Schnee bläst ihm direkt ins Gesicht, wenn er zum Feind blickt. Ich lasse ihn stehen.

(Die konzentrischen Ringe unter der „1.“ sind der Kurgan (Höhe 140,2); das grüne Symbol steht für das Tiger-Panzerwrack)

In einzelnen Sprüngen hetze ich durch den grundlosen Schnee meinem Zug nach. Ich erreiche den abgeschossenen Tigerpanzer und springe in die schützende Grube hinter dem Stahlkoloss. Da liegt ein Verwundeter: Der Unteroffizier mit dem EK I. Er hat einen Durchschuss durch beide Oberschenkel. Ob er nun hier liegen bleiben soll, fragt er. Ich lasse ihn gleich von zwei Männern forttragen, aber die beiden fehlen mir nun auch. Ich arbeite mich durch den Sturm vorwärts. Der erste Bunker ist genommen. Beim zweiten kommen mir zwei Männer entgegen und schreien durch den Sturm: „Zwei Mann gefallen, durch Paktreffer!“ Dieser verdammte Schneesturm. Es ist wieder die alte Geschichte. Der Russe greift mit Rückenwind an, und wir haben den schneidenden Ostwind und den treibenden Schnee im Gesicht. Er bläst uns derart an, dass wir nur für Sekunden die Augen öffnen können. Der Russe aber sitzt in unseren Bunkern in Deckung und schießt uns einfach ab, sobald der Wind die wirbelnden Schneemassen ••• S. 184 •••wie einen Vorhang hebt und die Sicht für einen Augenblick freigibt.

Zwei Bunker haben wir schon. Aber der Pak-Treffer hat den Männern einen Schock versetzt. Es stockt etwas. Auch der Funker hat bisher noch keine Verbindung zum Bataillon herstellen können. Dabei ist es schon Mittag. Es hilft alles nichts, ich muss noch einmal anrufen. Wieder arbeite ich mich durch den tiefen Schnee zurück. Der Russenmüller ist wütend, weil er noch keine Meldung hat. Ich erkläre ihm die Ursache der Funkpanne, die ich inzwischen entdeckt habe. Der Funkverkehr war durch das Wrack des Tigerpanzers blockiert, der direkt zwischen dem Funker und dem Bataillonsgefechtsstand lag. Das kleine TF-Gerät (Tornister-Funkgerät)[7] war diesem Hindernis nicht gewachsen. Nachdem Russenmüller genug gemeckert hat, hänge ich ein und mache den beschwerlichen Weg zum dritten Mal. Wieder haste ich durch den knietiefen Schnee, verschnaufe mit fliegendem Atem und jagendem Herzen, bis ich den Zug wieder erreicht habe. Die Männer sind kaum weitergekommen. Ich wische mir den Schnee aus den Augen und versuche, etwas vom Feind zu erkennen. Unmöglich! Wolken von Schnee verschleiern die Sicht nach zwanzig Metern. Nur für kurze Augenblicke fegt der Wind eine Strecke frei, aber auch dann ist nichts zu erkennen. Die Schneemassen haben alles unter sich begraben. Die Unebenheiten des Geländes sind geglättet. Selbst die flachen Buckel der Unterstände sind kaum noch zu erkennen. Wir sollen Bunker stürmen, die man nicht sieht! Aber der Iwan muss raus aus dem Graben. Wenn wir es bis zum Abend nicht geschafft haben, bringt er in der Nacht Verstärkung heran, und dann wird die ganze Stellung unhaltbar.

Ich dränge die Männer vorwärts. Mir fällt auf, dass es so wenige sind. Da erkenne ich einen fast verschneiten Bunkereingang. Wie von einer plötzlichen Eingebung getrieben, zwänge ich mich durch den engen Einstieg und lasse mich hinuntergleiten. Sieh da! Hier sitzen vier Landser und warten gleichmütig den Lauf der Dinge da oben ab. Ich brülle sie wütend an und jage sie hinaus. Vorwärts, angreifen! Nun geht es langsam vorwärts, ran an den dritten Bunker. Aber wo liegt er wohl? Der Graben ist längst zugeweht. Man kann nicht mehr erkennen, wo er einmal langlief. Ich versuche, mir den Stellungsplan und den Grabenverlauf ins Gedächtnis zu rufen. Hier muss etwa die Stelle sein, wo der Graben eine Biegung zum Feind hin macht. Aber zu sehen ist nichts. Wenn ich die Augen öffnen will, schlägt mir der Schnee hinein. Es ist schon mehr ein Kampf gegen den Schnee als gegen den Iwan. Wir stapfen weiter, stürzen, bleiben eine Weile liegen, um Kraft und Atem zu schöpfen. Die Männer zögern. Die gefallenen Kameraden sind nicht mehr zu sehen. Der Schnee hat sie schon begraben.

Die MGs geben keinen Schuss mehr von sich. Die Schlösser sind eingefroren. Die Muni-Schützen, die ihre Kästen einen Augenblick abstellen, finden sie nur mit Mühe wieder. Sie sind in den lockeren Schnee eingesunken und in kurzer Zeit zugeweht. Meine MPi ist völlig vereist. Diese Mistdinger taugen überhaupt nichts. Mein Tarnanzug ist durchgeweicht. Der Schnee ist in Stiefel und Ärmel gedrungen und hat sich in Wasser aufgelöst. Die Handschuhe sind klatschnass, die Finger steif. Den Männern geht es ebenso. Sie sind kaum noch vorwärts zu kriegen.

Es fällt schon lange kein Schuss mehr. Kann uns der Iwan auch nicht mehr sehen? Oder hat er sich schon zurückgezogen? Oder gehen wir in der falschen Richtung vor? Und die Pak? Wo steht die verfluchte Pak? Der russische Graben ist hier höchstens hundert Meter entfernt.

Nach einiger Zeit finden wir den dritten Bunker doch noch. Er ist leer. Also hat sich Iwan anscheinend doch abgesetzt. Jetzt fehlt nur noch ein Bunker, wenn ich die Karte richtig im Kopf habe.

Inzwischen ist es Nachmittag geworden. Ich muss das Bataillon vom Stand der Dinge unterrichten. Einen Mann zu schicken, hat keinen Sinn, also gehe ich zum vierten Mal diesen elenden Weg. Ich bin fast am Ende meiner Kräfte und wanke keuchend in den Bunker. Der Russenmüller tobt. Wo ich bleibe? was eigentlich los sei? warum ich mich nicht melde? Dieser ahnungsvolle Engel! der sitzt ••• S. 185 •••da oben in Hemdsärmeln in seinem überhitzen Bunker und hat keine blasse Ahnung, wie es hier unten aussieht. Der hat noch nie im Graben gestanden. Man sollte doch nur Infanteristen zu Bataillonsführern machen, und keine Leute von hinten. Aber ich kann seinen Ärger verstehen. Es kränkt diesen aufgeblasenen Prahlhans furchtbar, dass er dem Regiment keinen schnellen Erfolg melden konnte. Er hätte so gern mit seiner lauten, selbstbewussten Stimme getönt: „Seht her, bei mir klappt alles wie am Schnürchen!“

Ich melde ihm also zunächst, dass der Graben wieder in unserer Hand ist, mit Ausnahme eines Bunkers, den ich im Schneesturm nicht finden kann. Ich erkläre ihm nochmals, dass der Funkverkehr mit dem TF-Gerät anfangs durch das dazwischenliegende Panzerwrack gestört war. Ich melde ihm weiter, dass der Gegenstoß zwei Tote und vier Verwundete gekostet hat. Müller scheint sich von alledem keine rechte Vorstellung machen zu können. Schließlich kündigt er mir eine Verstärkung an. Ein Zug der 14. Kompanie unter Führung eines Leutnants sei unterwegs. Das ist jetzt natürlich nicht mehr nötig, aber der Zug war schon vor meinem Anruf in Marsch gesetzt worden, weil sie oben nicht wussten, dass mein Gegenstoß inzwischen beendet war, fast beendet.

Ich lege den Hörer auf und mache wieder diesen fürchterlichen Weg zurück zu meiner Angriffsspitze. Was hätte ich mir heute an Anstrengungen ersparen können, wenn dieses dämliche Funkgerät funktioniert hätte! Inzwischen ist es Spätnachmittag, und plötzlich lässt das Schneetreiben nach: Kurze Zeit später fallen nur noch wenige Flocken. Schräg hinter uns sehen wir den Zug der 14. Kompanie den Hang herunterkommen. Als sie uns erreicht haben, ist die Luft völlig klar und die Sicht ausgezeichnet. Jetzt finden wir auch den letzten Bunker. Er ist ebenfalls leer. Die Russen müssen nach anfänglichem Widerstand die besetzten Bunker aufgegeben und sich zurückgezogen haben, ohne dass wir es bemerkt haben. Sie hatten sich im Schutz des Schneetreibens zurückgezogen. Der Leutnant der 14. Kompanie lächelt wie ein Held. Er kam, sah und siegte![8]

Es ist 6 Uhr abends. Ich habe Befehl erhalten, den wiedergewonnenen Graben zu besetzen. Also treffe ich Vorbereitungen, um ihn wieder in brauchbaren Verteidigungszustand zu versetzen. Ich verteile die Männer auf die einzelnen Bunker, lasse die Eingänge freischaufeln und den Graben neben dem Bunker so weit vom Schnee befreien, dass wenigstens die Posten darin stehen können. Gegen Abend erscheint noch ein Artillerieleutnant, der uns als VB (Vorgeschobener Beobachter) zugeteilt ist und gleich beginnt, seine Batterie auf einen Sperrfeuerraum vor unserem Graben einzuschießen.

Ich selbst habe mit meinem Melder und dem Sanitäter den zuletzt besetzten Unterstand bezogen. Mein Melder ist gerade dabei, den Schnee aus dem Bunker zu schaufeln, den der Sturm hineingeweht hatte. Da stößt er auf elastischen Widerstand. Nach ein paar weiteren Spatenstichen wird der Schnee blutig, und dann kratzt der Spaten über eine braune Uniform. Ein toter Iwan. Also hatte unser Feuer trotz des Schneetreibens einige Wirkung gehabt. Bald ist der Körper freigeschippt. Seine Schädeldecke ist völlig zertrümmert, das zerrissene Gehirn liegt frei. Der Melder tut erstaunt: „Nanu, Iwan“, redet er den Toten an, „was willst Du denn noch hier? Du hast ja einen kaputten Kopp!“ Ich verweise ihm seine frivolen Reden und sage etwas von Pietät. Aber ich muss gestehen, dass der drollig-komische Tonfall dieses Monologs auch mich zum Lachen reizte, und ich Mühe hatte, es zu unterdrücken. Inzwischen zerrt der Melder, ungerührt von meiner Mahnung und dem furchtbaren Anblick, die Leiche mit einem letzten Ruck aus dem Bunker heraus, so dass dem Toten ein Teil des Gehirns aus dem zertrümmerten Schädel fällt. „He, Alter, Du verlierst ja Deinen Kopp!“, höhnt der Melder wieder. Ich rüge ihn nochmals, und er sagt nun nichts mehr.

Zynismus? Gefühlskälte? Ehrfurchtlosigkeit? Ich glaube es nicht. Dem Frontkämpfer ist der Tod ein alltäglicher Genosse, und Leichen sieht er so oft, dass ihn deren Anblick nicht mehr erschüttert. Der Krieger stumpft dagegen ab, und vielleicht ist das ein von der Natur zu ihrem eigenen Schutz eingerichteter Vorgang. Wer sich gegen solche Anblicke und Gefühle nicht wappnet, wird nervenkrank. Vielleicht auch verbirgt er seine Erschütterung hinter solchen schnodderigen Reden, um nicht zu zeigen, dass er ergriffen ist. Und schließlich war der Tote sein Feind, der, wenn er konnte, ebenso kaltblütig uns abgeschossen hätte. Jeder tote Russe ist ein Gewehr weniger da drüben. Vielleicht war der Melder auch in einer gewissen euphorischen Gemütsverfassung nach den Unbilden dieses fürchterlichen Tages und äußerte dies in der recht grobschlächtigen Art gegenüber dem Toten.

••• S. 186 •••Der Bunker ist von den Spuren des letzten Kampfes gereinigt. Der Schnee ist herausgeschaufelt, die Tür lässt sich wieder schließen. Wir machen es uns auf den blanken Pritschen so bequem wie möglich. (Iwan hat bei seiner Flucht alles mitgenommen. Wir liegen auf den nackten Brettern.) Endlich können wir nach den erschöpfenden Strapazen dieses Tages ausruhen.


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  1. KTB LVII. Pz.K. vermerkt Feindangriffe seit 4 Uhr, allerdings bereits am 17.02.1944 (NARA T-314 Roll 1495 Frame 000043)
  2. KTB 6. A. meldet –2°C und Schneetreiben für den 17.02.1944 (NARA T-312 Roll 1485 Frame 000811), –1°C und Schneeverwehungen für den 18. (000818) und erst für den 19. Schneesturm bei –5/–6°C (NARA T-312 Roll 1493 Frame 000259/99)
  3. im Original irrtümlich „Oberstleutnant“
  4. Der Autor traf von Arnim als Kompanieführer des Abschnitts an, in dem zuvor die Alarmeinheit gelegen hatte und danach die 10. Kompanie, die später unter die Führung des Autors trat und schließlich als Reserve herausgezogen worden war. Es ist anzunehmen, dass von Arnim mittlerweile mit seiner 9. Kompanie deren eigenen und zusätzlich den früheren, bereits vorher mit 1700 m besonders breiten Abschnitt der 10. Kompanie zu besetzen hatte.
  5. Der Regiments-Pionierzug war offenbar als Verstärkung der 9. Kompanie eingesetzt.
  6. Stabsfeldwebel Friedrich-Karl Warwel gehörte am 17.09.1943, als er das Ritterkreuz erhielt, zur 14. (Panzer-jäger-) Kompanie. Er wird nicht Zugführer des II. Zuges der 10. Kompanie gewesen sein, sondern Führer des II. Zuges der 14. (Panzerjäger-) Kompanie, der die 10. offenbar in ihrer Aufgabe als Regimentsreserve verstärkte.
  7. vermutlich der übliche Tornisterempfänger Berta (Torn.E.b.)
  8. KTB AOK 6, NARA T-312 Roll 1485 Frame 000806: „Ostwärts des Ssakssagan wies die 257.I.D. 3 batl.starke Angriffe südostw. Krassnyi ab und bereinigte im Gegenstoß unter hohen Feindverlusten einige örtliche Einbrüche.“