5. August 1947

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Chronik 40–45

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik 45–49

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

English
GEO INFO
Betonfabrik noch zu lokalisieren
Fabrik „Kalinin“ Karte — map
Schrottplatz noch zu lokalisieren
Rotkreuzkarte des Autors an seine Frau anlässlich des bevorstehenden Hochzeitstages, sicherheitshalber sechs Wochen vorher abgesandt, mit einem Aquarell eines Kameraden

5.8. Die rückständige Bezahlung wurde aufgeholt, indem man die in Frage kommenden 5 Monate einfach gestrichen hat.

In den letzten 2 Wochen sind wieder 2 Mann zusammengebrochen. Einer bei der Arbeit, einer auf dem Weg zur Arbeit.

Ganze Brigaden gehen vor Hunger und Schwäche kaputt, brechen allmählich zusammen (Ziegelei, Kesselschmiede), weil die Verpflegung für die Schwerarbeit nicht ausreicht. Das ist nicht mehr Ausbeutung, dass ist fast schon Mord.

Die „deutsche“ Lagerleitung hat weder Interesse noch Verständnis für die Anliegen der Männer. An einem der wenigen freien Sonntage wollten die Leute schlafen, wurden aber zur Teilnahme am Sport gezwungen. – Ein Landser wollte eine Frage vorbringen, als die Herren der antifaschistischen Lagerleitung, parfümiert und fertig zum Stadtgang, erklärten: „Lass’ uns jetzt zufrieden mit dem Arbeitskram!“

Oft kein Strom (Betonfabrik), kein Material (Fabrik). Daher keine Produktion, also auch keine Prozente – und kein Brot!

August 47. Kohl- und Gurkensuppen. Die Zahl der Arbeitsunfähigen nimmt rapide zu. Hungerfolgen, Phlegmone, Hautausschläge, Furunkel, Zahnausfall. Ärzte können nicht helfen. Keine Medikamente, kein Verbandstoff. Entweder wird nichts geliefert oder der Russe unterschlägt es. Es gibt aber auch Fälle, wo die Ärzte Verbandstoff geklaut haben, grüne Medikamente zum Wäschefärben nehmen oder Prontosil als Tinte gebrauchen.

Wir haben jetzt eine Zahnstation im Lager. Der Zustand der Zähne bei den Gefangenen ist miserabel. Als nun endlich einmal das dringend benötigte Material geliefert wurde, wurde einer unserer Plennis, ein Zahnarzt, eingesetzt. Nun kamen sämtliche zum Lager gehörenden Iwans mitsamt ihren Familien an, um sich ihre vergammelten Gebisse reparieren zu lassen. Das Wartezimmer war voller Russen, die natürlich alle kostenlos behandelt werden mussten. Und als sie alle bedient waren, war das für die Gefangenen bestimmte Material verbraucht. Unsere Landser können sich weiter mit ihren Zahnschmerzen abquälen.

Betonfabrik. Die ganze „Fabrik“ bestand aus einem Betonmischer, einer 3 m hohen Presse und einer Bürobaracke. Das Fabrikgelände war 50 x 80 m groß. Hier stellen wir Bausteine her. In der Betonmischmaschine wird eine Mischung von Zement und Schlacke hergestellt und in die Presse geschüttet, die dann die Masse zu großformatigen Bausteinen presst. Jeweils 3 Stück werden dann von uns auf einem Brett auf eine freie Fläche getragen, wo ••• S. 323 •••sie zum Trocknen abgelegt werden. Dabei werden sie dann hart, denn wenn sie aus der Presse kommen, sind sie noch nass, weich und schwer.

Arbeitsschluss. Hans reinigt die Mischmaschine, und da gerade niemand in der Nähe ist, haut er mit seinem Hammer in wuchtigen Schlägen auf die Nieten der Trommel. Aber einer von der Brigade hat es doch gemerkt und meldet die „Sabotage“ im Lager. Seltsamerweise geschieht nichts darauf. Ein paar Tage später versuche ich in einem harmlosen Gespräch mit diesem Denunzianten, seinen Namen und Heimatort zu erfahren. Aber dieser Fuchs ist vorsichtig und gibt nichts preis. Ich glaube aber, er war aus dem westlichen Havelland oder aus Brandenburg oder Burg bei Magdeburg.

Arbeitsschluss. Es ist schon dunkel, und wir warten auf den Lkw, der uns ins Lager bringen soll. Neben dem Büro steht ein Lkw. Da sind ein paar Körbe mit Äpfeln drauf. Leutnant X pirscht sich heran, klettert hinauf und greift sich ein paar Äpfel. Aber er wird erwischt und bekommt, wieder einmal, ein paar mächtige Ohrfeigen. Der hat immer Pech, denn von Michai auf dem Drahtrollen-Kommando hat er auch mal welche bekommen.

Während wir auf dem Gelände der Betonfabrik arbeiten, kommt eine ältere Frau vorbei und reicht Hans ein ganzes Brot durch den Zaun. Es gibt auch unter den Russen viele gute Menschen.

Wir bekommen Heimatpost. Als man sie uns aushändigt, sind es nur die leeren Briefumschläge.

Rechenschaft über die Gestorbenen gibt es nicht. Sie dürfen auch nicht von uns privat registriert werden.

In der Betonfabrik wird die Norm erhöht. Bisher täglich 800 Steine mit 13 Mann, jetzt 800 Steine mit 8 Mann. Zusätzliche Nachtarbeit ohne Bezahlung und ohne Zusatzverpflegung.

Dauernde Arbeitsunfälle wegen mangelhaften Arbeitsschutzes, z. B. Verladearbeiten auf dem Güterbahnhof bei Nacht ohne Licht.

„Kameraden erzählen“, ein Textteil ohne Gewähr für die Wahrheit des Berichteten[1]

Kameraden erzählen:

Kohlebergwerk in Stalino 1944: In niedrigem Flöz liegend Kohle gehauen, die Kohlestücke rückwärts kriechend herausgeschafft. Norm: 1 Lore täglich pro Mann. Nach 2 Monaten waren alle krank. Von 1600 Mann blieben 267 am Leben. – Stein (aus Thorn) erzählt: Seine Gruppe mit 1 Offizier als Gefangene abgeführt. Der am Ende der Gruppe laufende Offizier wurde erschossen. Großer Durst, kommen an Fluss vorbei, wer hinlief, um zu trinken, wurde erschossen. – Marx (Totengräberkommando Witebsk): Von den 22 Mann des Kommandos sind nur 4 Mann übrig geblieben. – 1944 sind von 2200 Lagerinsassen 1800 gestorben. Er selbst hat 1325 begraben. – Tolksdorf: Am Tage der Kapitulation von Königsberg hörte man überall die verzweifelten Schreie und das grauenhafte Kreischen deutscher Frauen, die sich gegen die Vergewaltigungen durch die sowjetischen Soldaten wehren wollten. – In Metgate(?)[2] wurde die Bevölkerung zusammengetrieben und mit Minen in die Luft gesprengt. Er selbst hat dort 176 Frauen und Kinder beerdigt. – Dez. 44 und Jan. 45 in Jarczuz(?): Von 1300 Offizieren sind 150 gestorben. – Heimkehrtransport von Gorki: Die Bevölkerung ist sehr unfreundlich. (Bis hierher waren die Deutschen im Krieg nicht vorgedrungen. Die Bevölkerung sah sie nur als Kriegsgefangene und war von der sowjetischen Propaganda völlig verhetzt.) – Russischer Offizier lässt sich von Landser vormachen, wie man mit Messer und Gabel isst. – Werner Kiesel spricht mit einer Russin, die in Auschwitz war. Sie gibt ihm einen halben Wäschebeutel voll Kartoffeln (ca. 5 Pfund). – Kommando aus Kowno: Litauer freundlich. Im Lager Ruhrepidemie. In zwei Monaten sterben 700 Mann. – Bormann (Kaunas): Telefonleitung zum russischen Kapitän durchgeschnitten. – Theo Korth (Kosch?): Weil er die Erpressung zu Spitzeldiensten ablehnte, bekam er Steh- und Wasserkarzer (ein enges Verlies, wo er bis zum Bauch im Wasser stand). – Deutsche Mädchen kahlgeschoren. – Rückkämper: Das Dorf hallt wieder von den Schmerzens- und Verzweiflungsschreien deutscher Mädchen. – Rotarmisten haben deutsche Verwundete geschlagen und ermordet. – (?) Nach Saunabad nass und nackt in die Kälte gejagt: 1 Toter. – Adler (Borissow) und Klettendorf (Breslau): Sämtliche erreichbaren Frauen in einem Haus zusammengetrieben und laufend vergewaltigt. – Ein alter KP-Funktionär muss zusehen, wie seine Frau und seine 14-jährige Tochter vergewaltigt werden. Als Altkommunist geht er zum russischen Kommandeur und beschwert sich. Er wird erschossen. – 27 Frauen begehen Selbstmord, um nicht vergewaltigt zu werden. – Adlers Frau lässt sich mit einer Zange alle Vorderzähne ausreißen, um hässlich auszusehen. (Adler ist Kommunist!) – Benno, Kade, Rolf (Dresden-Neustadt): ••• S. 324 •••Herzzerreißende, kreischende Hilferufe von Frauen. Deutsche Offiziere gehen zum Lagertor, um den Frauen zu Hilfe zu kommen. Der rote Posten hält sie mit angelegtem Gewehr zurück. – Ein Kohlewaggon zeigt eine mit Kreide an die Wagenwand geschriebene Nachricht: Gruß von Marie und Erika, Kohlerevier, Schacht 6. – Sloboda: Bei einer Filzung findet man bei einem Mann 3 Schachteln Streichhölzer. Er bekommt Karzer wegen Sabotageverdacht. – Tula: Deutsche, kahlgeschorene Mädchen verladen Steine. Am Lagerzaun angerufen, aber sie antworten nicht. – Verbannte werden oft noch Jahre nach Ablauf ihrer Zeit festgehalten. Oder entlassen und gleich wieder verhaftet. – Nach der Besetzung Schlesiens: Ein Geistlicher bemerkt zufällig, dass ein Mädchen keine Schlüpfer trägt. Auf seine vorwurfsvolle Frage antwortet sie: „Hat ja keinen Zweck, es kommen ja dauernd Russen und wollen etwas!“. – BVK[3] (Borissow): 20 Ungarn wegen Nichterfüllung der Norm in Dunkelkammer gesperrt, die nur für 7 Personen Platz hat. Sie schreien und brüllen. – Russische Ärztin wird versetzt, weil sie zu den Deutschen zu gut ist. – Deutscher Lauschdienst hört (während des Krieges) das Verhör eines deutschen Kriegsgefangenen ab: „1 und 2 angewandt (= Finger- und Zehennägel ausreißen), nichts ausgesagt.“ „Gehen Sie weiter, bringen Sie ihn zum Bataillon. Ich erwarte, dass er hier nicht ankommt.“

Ende der Kameradenberichte.

Ende des Abschnitts „Kameraden erzählen“, ein Textteil ohne Gewähr für die Wahrheit des Berichteten

In Smolensk müssen viele Leute ihr Haushalts-Wasser immer noch aus den Straßenbrunnen holen, wie auf den Dörfern. – Frauen tragen ihre Kinder auf dem Rücken. – Lasten werden oft in Bündeln auf dem Rücken getragen. – Die meisten Lkws werden noch mit der Kurbel statt mit einem Anlasser angeworfen. – Ist nicht abfällig gemeint, aber es ist Europa vor 100 Jahren.

Fabrik „Kalinin“. Sie liegt direkt unter uns am flachen Hang und reicht schon in die Talebene. Sie ist von unserem Lager nur durch einen Zaun getrennt, denn unser „Kulturpalast“ war ja das Versammlungshaus dieser Fabrik. Das kleine Werk hat mehrere Abteilungen: Traktoren-ausbesserungswerk, Kesselschmiede, Formerei und Gießerei. Ich bin Brigadier einer Arbeitsbrigade in der Fabrik. Wir arbeiten abwechselnd in allen Abteilungen, je nach Bedarf. Zwischendurch bekommen wir wieder mal ein Kommando in der Stadt, oft monatelang. Die Fabrik hat Gleisanschluss.[4]

Auch im sozialistischen Russland herrscht das Leistungsprinzip, und von der klassenlosen Geselschaft ist überhaupt keine Rede, außer in der Propaganda. Spezialisten (Facharbeiter) werden weit besser bezahlt, als ungelernte. Der Unterschied zwischen diesen beiden Lohngruppen ist erheblich größer, als in den westlichen Ländern.

In der Kesselschmiede quälen wir uns mit der Gleiskette eines großen Traktors ab. Die bleischwere Kette soll von einem Arbeitsplatz zu einem andern geschafft werden. Das geschieht, indem wir zu 6 Mann mit Brechstangen zwischen die Kettenglieder stoßen und sie dann zentimeterweise weiterhebeln. So primitiv wird hier vielfach noch gearbeitet. In der Kesselschmiede ist alles schwerste Knochenarbeit. Selbst die dicken Stahlbleche für Kessel werden von den Kriegsgefangenen in Handarbeit mit schweren Hämmern rund geformt. Hier machen viele schlapp.

In der Formerei geht es etwas ruhiger zu. Hier arbeiten z. T. Facharbeiter, Former, russische und deutsche. (Facharbeiter waren immer gesucht. Sie werden besser bezahlt und oft auch besser behandelt.) Der Boden der großen Halle war etwas tiefer gelegt und dann mit einer dicken Schicht dunkler, lockerer Spezialerde ausgefüllt. In diesen Boden haben die Former dann Hohlräume hineinmodelliert und oben mit Erde abgedeckt. Diese Hohlräume haben die Form bestimmter Geräte oder Maschinenteile. Nun kommen die Gießer heran. Zu zweit tragen sie an einer langen Stange, in deren Mitte ein Kübel mit glutflüssigem Eisen hängt, das Gießmaterial heran und kippen es vorsichtig durch ein Loch, dass die Former offen gelassen hatten, in die Form. Nach einigen Tagen ist das Eisen erkaltet und das gegossene Teil erhärtet. Nun wird es ausgegraben und muss dann noch geputzt und abgeschliffen werden. Diese Arbeit machen dann die Gussschleifer. Auch diese ganze Arbeistmethode ist noch primitiv, aber sie funktioniert.

Zurzeit arbeitet meine Brigade in der Formerei. Wir rollen mit 3 Mann einen Mühlstein in die Halle. Die steinerne Scheibe hat einen Durchmesser ••• S. 325 •••von 1 1/2 Metern und ist 15 cm dick. Auf dem weichen Boden der Gießerei kommt sie plötzlich aus dem Gleichgewicht ihrer Senkrechtstellung und neigt sich zur Seite. Ich rufe „festhalten“, aber 2 Mann waren schon zur Seite gesprungen. Ich packe mit zu, aber mein Nebenmann, ein junger Leutnant, will getreu meinen Befehl nicht loslassen. Mit 2 Mann aber war der Stein nicht zu halten. Er beginnt zu kippen, und bevor wir zurück springen können, fällt die Kante des Mühlsteins dem Leutnant auf die Zehen. Er zieht das Bein an, hält es mit beiden Händen hoch und hopst vor Schmerzen im Kreis herum, auf einem Bein. Der Zeh war gebrochen, aber es war trotzdem noch glimpflich abgegangen, weil der weiche Boden nachgegeben und den Fuß in die Erde gedrückt hatte.

Ein russisches Mädchen und ein deutscher Kriegsgefangener werden in einem Nebenraum der Formerei in eindeutiger Stellung erwischt. Das Mädchen ist weg.

Im Traktorenwerk ist die Reparatur eines Treckers gerade beendet. Nun wird er noch schön angestrichen. Die Speichen rot, alles andere grün. Ich stehe daneben und begucke mir den schmucken Apparat. Wieder so ein Stück potemkinsches Dorf. Ich höre nämlich die Unterhaltung der beiden Russen, die sich etwas besorgt über die Dauerhaftigkeit ihrer Reparatur äußern. Sie erwarten jeden Augenblick denn Traktoristen, der sein Fahrzeug selbst abholt, um es zur Kolchose zurückzubringen. Er kommt tatsächlich und beginnt sofort, den Trecker auf dem Fabrikhof auszuprobieren. Während er auf dem Fabrikgelände herumkurvt, schwitzt der russische Vorarbeiter Blut und Wasser. Denn solange das Fahrzeug nicht verladen ist, trägt die Fabrik noch die Verantwortung. Aber der Traktorist ist zufrieden. Er fährt den Trecker ans Bahngleis, wo er verladen und festgezurrt wird. Der russische Meister atmet hörbar auf. Seine Norm ist erfüllt, und wenn der Trecker morgen auf der Kolchose wieder kaputt geht, ist es nicht seine Schuld.

Die Hälfte meiner Brigade wird zu einem Schrottplatz abgestellt, wo sie zwischen den Autowracks aufräumen soll. Der Platz liegt in der Nähe der Fabrik, und ich gehe ein paar Tage mit dieser Gruppe, um mir die dortigen Arbeitsbedingungen anzusehen. Als Bewachung ist uns eine russische Frau) mitgegeben, mittelgroß, rundlich mit roten Pausbacken. Sie ist herzensgut, und die lange Flinte, die sie geschultert hat, passt gar nicht zu ihr. Sie bringt oft ihren 12-jährigen Sohn mit, der ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Zum Lachen, wie ähnlich sich die beiden sehen. Die Frau lässt mich oft zum Einkaufen losgehen, und ich bin dann stundenlang in der Stadt unterwegs. Meine Brigade arbeitet sich auch nicht tot. Aber es ist trotzdem kein angenehmes Kommando, denn es ist bitterkalt. Ich gehe deshalb nach ein paar Tagen wieder zu dem anderen Teil meiner Brigade zurück, die in der Kesselschmiede arbeitet. Hier ist es warm. Als ich später auch wieder mal zum Schrottplatz kam, schmollt die Postenfrau mit mir. Sie ist beleidigt, weil ich nicht bei ihrem Kommando geblieben bin. Ob es mir bei ihr nicht gefiele? Natürlich habe es mir gefallen. Sie war immer sehr freundlich zu uns und hat uns manches abgekauft, obgleich sie es gar nicht gebrauchen konnte. Sie tat es nur, um uns zu helfen. Sie war die typische gute russische Mutter.[5]

Brigadiere brauchen nicht mitzuarbeiten. Trotzdem habe ich es oft getan, weil ich ganz gern arbeite. Jetzt aber tue ich es seltener und habe daher viel Bewegungsfreiheit. Wolfslast führt eine andere Brigade in der Fabrik. Manchmal treffen wir uns auf dem Werksgelände und unterhalten uns eine Weile.

Eines Tages drückt unser Fliegeroffizier und Stubengenosse kurz vor Arbeitsschluss seinem Brigadier Wolfslast ein Päckchen in die Hand mit der Bitte, es ins Lager mitzunehmen. Wolfslast nimmt es ahnungslos mit und kommt auch durchs Lagertor. (Beim Verlassen der Fabrik werden die Kommandos oft durchsucht, nur die Brigadiere lässt man meist ungeschoren.) Oben in der Stube lässt sich der Flieger das Päckchen wiedergeben. Es enthielt wertvolles Material, dass der Österreicher geklaut hatte. Dieser Trick war eine bodenlose Gemeinheit, denn wenn Wolfslast damit geschnappt worden wäre, hätte er eine harte Strafe zu erwarten gehabt, denn die Fabrik mit allem Material ist Staats- bzw. Kollektiveigentum. Sie gehört theoretisch nach sozialistischen Wirtschaftsverständnis dem Volke. Und Diebstahl von Volkseigentum ist folglich ein Verbrechen gegen Staat und Volk. Es wird immer hart bestraft.

Ich werde allein zum Haus des Fabrikdirektors geschickt, um einen Gartenzaun auszubessern. Im Hof stehen zwei Sessel mit rotem Plüsch und breiten Goldfransen. Frau Direktor in schwarzem Seidenkleid. Alles etwas ••• S. 326 •••protzig und alles deutsches Beutegut. Ich wollte mal den Lokus des Direktors benutzen. Es ist das bekannte Holzhäuschen im Garten. Aber mein Vorhaben stieß auf Schwierigkeiten. Beide Brillen waren nass und buchstäblich besch... Aus den Brillen ragten die Überreste menschlicher Verdauung in einem spitzen hart gefrorenen Kegel heraus. Man musste auf die Brille steigen und in Hockstellung seine Verrichtung erledigen.

Später gab ein anderer Kriegsgefangener in dem selben Haus Klavierunterricht und aß dann auch zu den Mahlzeiten mit am Tisch. Auf den Bestecken stand „Hotel zur Post“. Wahrscheinlich war auch das Klavier in Deutschland geklaut.

Ich bekomme inzwischen ein neues Kommando. Auf dem Rückmarsch zum Lager begegnen wir auf der Dnjepr-Brücke einer Kolonne russischer Strafgefangener. Sie werden schärfer bewacht, als wir. Ihre Wachen haben Hunde bei sich. Als die Posten uns sehen, werden sie nervös, rennen an ihrer Kolonne entlang und schreien herum. Sie wollen verhindern, dass wir miteinander sprechen.

August 47. Ein deutscher Kriegsgefangener ist von einer Kolchose mit einem Trecker getürmt. Er spricht gut russisch. Vielleicht kommt der durch.

Die „Tägliche Rundschau“ berichtet in der Heimat, in Leningrad sei ein Gefangenenlager ohne Stacheldraht. Eine Woche später wird bei uns ein dritter Zaun um das Lager gezogen. – Sächsische Tageszeitungen erzählen ihren Lesern, dass wir pro Tag 800–1000 g Brot bekämen.

Unser Waldlager hat bei 10–12-stündiger Arbeit kein Schuhwerk und zerlumpte Kleidung.

Wieder eine große Versammlung mit dem Thema: Wie können Missstände beseitigt werden? Wo sind Verbesserungen möglich? Der Russe macht große Versprechungen, aber getan wird nichts, wie immer. Abgesehen von allen übrigen Schikanen und Betrügereien besteht ein grundsätzlicher Übelstand: Die Arbeits-Normen sind ja unter normalen Voraussetzungen festgelegt worden, das heißt dass Material, Arbeitsgeräte und gesunde Menschen vorhanden sind. In unserer Fabrik und auf den meisten anderen Arbeitsplätzen ist aber nichts von alledem vorhanden. Daher ist die Norm (100%) normalerweise kaum zu erreichen.

Im vergangenen Jahr bekamen wir um diese Zeit 900 g Brot und 800–1000 g Suppe. In diesem Jahr sind es 600 g Brot und 600–750 g Suppe. Und dies nur bei Normerfüllung von 100%! Und außerdem werden einzelne Arbeitsforderungen noch erhöht. Und der brave Deutsche schuftet und treibt sich noch gegenseitig an, denn wenn 1 oder 2 Mann faul sind, drücken sie die ganze Norm der Brigade. Die Minderleistung eines oder einiger Leute schädigt also die ganze Gruppe. Deshalb werden sie dann oft von den anderen Brigademitgliedern angetrieben. Ein raffiniertes System!

Der Deutsche ist der beste Soldat der Welt, aber auch der beste Gefangene!

Die Miliz (Polizei) wird wachsamer. Kriegsgefangene, die in der Stadt beim Einkaufen oder Herumbummeln geschnappt werden, werden ins Lager zurückgebracht. Meist ist der Fall damit erledigt.

Der Russe sperrt uns in zu kleine Räume und gibt uns keine Spinde für unsere Bekleidung. Aber er verlangt Ordnung und Sauberkeit. Er nimmt uns Bekleidung, z. T. Rasierzeug, verlangt aber ordentliche Kleidung und Rasur. Er selbst spuckt und kackt überall herum, aber an uns kritisiert er jedes Krümelchen Schmutz.


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  1. Aus dem Vorwort: Für den Wahrheitsgehalt der Abschnitte „Kameraden erzählen“ kann ich mich nicht unbedingt verbürgen. Bei derartigen Berichten sind Übertreibungen und Wichtigtuerei der Erzähler nicht auszuschließen, obgleich ich persönlich aus eigenem Wissen und Erleben an der Wahrheit dieser Berichte im Prinzip nicht zweifle.
  2. In der vom Autor verwendeten Kurrentschrift wird Mothalen ähnlich geschrieben.
  3. Ist damit etwa gemeint: Bruderbund der Kriegsgefangenen, antifaschistische Untergrundorganisation sowjetischer Kriegsgefangener 1943–44 (Für immer gezeichnet: Die Geschichte der Ostarbeiter. Aus dem Russischen von Christina Links und Ganna-Maria Braungardt, Ch. Links Verlag, 2019)
  4. Die Fabrik gibt es immer noch. Im Kulturpalast („Club für Arbeiter der Anlage Kalinin“) befindet sich jetzt eine juristische Akademie. Ein Gleisanschluss ist jetzt und auch auf Luftbildern oder einem Stadtplan der Kriegszeit nicht feststellbar; die Anlage liegt aber neben dem Bahnhof, nur durch die Hauptstraße getrennt.
  5. Diese Frau konnte mit Unterstützung aus der Facebook-Gruppe „Другой Смоленск“ identifiziert werden als Frau Артюхова (Artjuchowa) mit Sohn Юра/Юрий (Jura, Diminutiv von Juri). Der Autor war demnach mit ihr geradezu befreundet, hat dem Sohn viel beigebracht, und sie hoffte, er würde sie mit nach Deutschland nehmen. Sie hat nie geheiratet.