6. November 1946

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Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang

Chronik 40–45

Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente

Chronik 45–49

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

Русский
English
GEO INFO
Magazin 19 Lage noch unbekannt
Wiesengelände in der Nähe des Schlachthofs Karte — map
Gebäude (der Fabrik Kalinin) Karte — map
Flachskombinat Karte — map
Ziegelei Lage noch unbekannt
s. a. Lokalisierungsversuche und Übersichtskarte Karte — map

6.–8. November. Die rote Oktoberrevolution ist wie immer groß gefeiert worden. Für uns bedeutete das nur verstärkte Bewachung.

Eine zensierte Rotkreuz-Postkarte aus sowjetischer Gefangenschaft.[1]

Rotkreuz-Karten dürfen nur noch mit 25 Wörtern beschrieben werden. Selbstverständlich wird der Text zensiert. Angaben über den Aufenthaltsort, Gesundheitszustand (sofern er schlecht ist), Gewicht und alles Negative werden gestrichen (s. Abb.). Missliebige Post wird einfach weggeworfen. Auch diese Arbeit besorgen die Antifa-Genossen. Post ist nur aus Deutschland und Österreich gestattet. Post aus anderen Ländern wird nicht ausgehändigt. Die Antifa-Genossen können keine Fremdsprachen lesen. Ich habe 11-mal geschrieben. Davon sind 9 Karten zu Hause angekommen. Laufzeit bis zu einem halben Jahr.

Schlechte Arbeiter kommen in eine besondere Brigade. Diese bekommt eine Norm, die sie erfüllen muss, sonst wird die Arbeitszeit einfach verlängert. Das ist Zwangsarbeit. Verlängerung der Arbeitszeit, Kürzung der Pausen, Außenarbeit bei –40°, Einsatz von Distrophikern und zahllose andere Verletzungen der Genfer und Haager Abkommen sind an der Tagesordnung.

Wir haben eine größere Gruppe von Ungarn im Lager. Das sind schlitzohrige Gesellen, faul und gerissen. Als sie einmal mit uns zum Kartoffelschälen dran sind, erscheinen sie erst gar nicht, bis wir sie schließlich nach einer halben Stunde holen. Und dann fangen sie an zu schälen, indem sie mit sechs kurzen Schnitten soviel Kartoffel wegschneiden das nur noch ein kleiner Würfel übrig bleibt. Unser Schimpfen ficht sie nicht an. Sie sind mit ihrem Anteil so schnell fertig, wie wir, aber es ergibt mindestens einen Eimer Kartoffeln weniger. Diesen Kanaken jedoch macht das nichts aus. Sie verstehen sich gut mit der Bevölkerung draußen und sind auch im Klauen gerissener, als wir, sodass sie immer genug zusätzliche Verpflegung haben. Ich glaube, die Seelenverwandtschaft zwischen Ungarn und Russen ist größer und erleichtert daher ihre Kontakte.

Die Atmosphäre im Lager ist unerfreulich. Da ist der blinde Hass der „deutschen“ Lagerleitung gegen uns Offiziere. Das gilt auch für manche Landser. Als ich einmal einen solchen im Waschraum rügte, weil er mich bespritzt hatte, meckert er: „Ihr habt gar nichts mehr zu sagen!“ Beim Herausgehen trifft er an der Tür auf einen russischen Rekruten und reißt vor dem buchstäblich die Hacken zusammen! Das ist der Deutsche! – Da ist (abgesehen von dem Hass einiger) die Verständnislosigkeit des Russen gegenüber unserer Mentalität. Es ist nicht immer böse gemeint, aber es ist ärgerlich. Er ist furchtbar misstrauisch und humorlos. Er verbietet den zzt. gängigen Schlager „Barcelona, du allein...“[2], weil Spanien eine faschistische Diktatur ist. Als Opalew, ein Offizier der russischen Lagerkommandantur, hörte, dass wir die Gefangenschaft satt haben, sagt er, das verstehe er nicht! Er trinkt Champagner wie Limonade und Kölnisch Wasser wie Schnaps. Wir sollen essen, wie er es tut: Trockenes Brot zur Suppe. (So essen es die Russen.) Menschen mit 2 Anzügen sind für ihn schon Kapitalisten. – Da sind die dauernden Betrügereien bei der Verpflegung. Da müssen die Kartoffeln mit der Schaufel statt mit der Gabel eingefüllt werden, damit möglichst viel Sand mit auf die Waage kommt. Dann jagt er den deutschen Verpflegungsoffizier, der das Ab••• S. 309 •••wiegen kontrollieren soll, fort, weil dieser beanstandet hatte, dass der Iwan den Fuß auf die Waage gestellt und einen Stein draufgelegt hatte.

Rotkreuzkarten gibt es alle 4 Wochen, ganz nach Vorschrift – aber sie reichen nicht für alle!

Der Arbeitslohn, der sowieso schon heruntermanipuliert ist, wird oft nicht ausgehändigt. Man lügt uns dann vor, er würde auf ein Sperrkonto überwiesen und bei unserer Entlassung ausgezahlt!

Wir bekommen Winterkleidung, aber dafür nehmen sie uns unsere grünen Wehrmachtsmäntel weg.

Briefe dürfen geschrieben werden, aber sie werden oft nicht weitergeleitet.

Unser Haus hat Wasserleitung, Zentralheizung und Strom, aber es funktioniert oft nicht.

Und... und... und...

In konsequenter Durchführung der sozialistischen Gleichmacherei ist die Gleichberechtigung der Frau in der Sowjetunion radikal durchgeführt (außer in den moslemischen Staaten). Frauen leisten dieselbe Schwerarbeit, wie Männer. Aber die Brigadiere der Frauenbrigaden sind meist doch Männer.

Magazin 19. In diesem Lagerhaus sind Zerealien gelagert. Große Stapel mit Säcken voller Kartoffeln, Hirse, Mehl u. a. m. Seltener schon mal ein paar Säcke mit Zucker oder dergleichen. Unsere Arbeit besteht darin, die Lkws zu entladen, die diese Waren vom Güterbahnhof hierher gebracht haben, und andere Lkws zu beladen, die das Zeug dann wieder zu den einzelnen staatlichen Verkaufsläden in der Stadt brachten. Es war nicht allzu viel zu tun. Die russischen Posten verkrümelten sich manchmal, und auch der russische Natschalnik war nicht immer anwesend. Wenn wir Gelegenheit hatten, schafften wir natürlich etwas von der Verpflegung für uns beiseite. Auf solche Gelegenheiten ist jeder erfahrene Plenni eingerichtet. Die Taschen müssen immer dicht und ohne Löcher sein. Es ist auch zweckmäßig, immer einen kleinen Beutel bei sich zu haben. Zur Zeit habe ich auf diesem Kommando immer einen Esslöffel mit abgebrochenem Griff bei mir. Er ist leicht zu verstauen, und man kann damit z. B. im Vorbeigehen aus einem offenen Mehlsack einen Löffel voll nehmen und in den Mund stecken. Müsste man es mit der Hand tun, hätte man bald Hand und Mund verschmiert und wäre verraten. Dass der Mehlsack offen ist, liegt daran, dass er beim Abladen „versehentlich“ heruntergefallen und dabei aufgeplatzt ist. Es gibt auch noch andere Methoden, aber man darf das nicht oft machen, denn der Natschalnik ist ja nicht dumm.

In einem anderen Fall auf einem anderen Kommando haben wir uns mit dem Aufseher vorher geeinigt: Wir würden nichts klauen (im deutsch-russischen Kauderwelsch „zappzerapp“ genannt), und dafür gibt der uns am Schluss freiwillig etwas. Aber nicht alle Natschalniks waren so menschenfreundlich, und oft gab es Prügel, wenn man beim „Zappzerapp“ erwischt wurde. Es wurde viel und überall gestohlen, von Russen und von Deutschen. Es war wie eine Seuche. Ein Kamerad erzählte sogar, dass vor einem Verpflegungsmagazin deutsche Kriegsgefangene mit MPi’s aufgestellt wurden, weil die Russen zuviel stahlen.

Einmal haben wir auf einem Nebengleis des Personenbahnhofs einen Güterwagen entladen. Unter den Waren befand sich auch ein Sack mit Rosinen. Während einer den schweren Sack trug, ging ich seitlich nebenher, um die Last helfend abzustützen. Dabei bohrte ich meinen Finger in ein bereits vorhandenes Loch, um ein paar Rosinen herauszufischen. Aber die Rosinen waren etwas gefroren und hart, sodass ich mir die Fingernägel abbrach. Für die paar Rosinen, die ich ergatterte, hat es sich kaum gelohnt. Außerdem war dieses Unternehmen riskant, denn beim Verladen solcher Kostbarkeiten, wie z. B. auch bei Zucker, wimmelt es immer von Aufpassern (die nebenbei alle hoffen, für sich etwas abzweigen zu können).

Wir stauen Hirsesäcke in der großen Lagerhalle. Aus einem Sack, der aufgegangen war, füllten wir in unbeobachteten Augenblicken unsere Taschen. Ich hatte meinen Brotbeutel gefüllt und ging möglichst unauffällig vor das Tor, um ihn in unserem dort stehenden Lkw zu verstauen. Neben dem Wagen steht unser mongolischer Posten. Ich blinzele ihm zu und verstaue meinen Beutel in einer Ecke. Der Mongole lächelt. Als wir dann nach beendeter Arbeit den Lkw zu Heimfahrt besteigen, ist mein Beutel weg. Der Mongole lächelt immer noch, der Schuft!

Benno (von Knobelsdorff) hatte eine andere Methode. Er hat die lose Hirse einfach in seinen Filzstiefel rieseln lassen, und zwar in den rechten. Nach Arbeitsschluss lässt uns der Posten plötzlich in Linie antreten und hinset••• S. 310 •••zen. Wir mussten unsere Stiefel ausziehen und umstülpen. Benno zieht den (leeren) linken aus. Der Iwan will auch den anderen sehen. Benno zieht den linken wieder an und will aufstehen, aber der Russe lässt ihn sich wieder hinsetzen. Benno setzt sich und zieht wieder den linken aus. Der Iwan hat es nicht bemerkt. So zog Benno mit einem etwas geschwollenen rechten Fuß ins Lager.

Wir verladen Kartoffelsäcke. Inzwischen hatten wir hinter der Lagerhalle eine Feuerstelle eingerichtet, über der unsere mit Kartoffeln gefüllten Kochgeschirre hingen. Aber der Lageraufseher entdeckt sie, als wir gerade mal nachsehen wollten, ob sie schon gar wären. Wie ein wütender Stier kommt der Iwan angerast, stößt mit den Füßen nach den Kochgeschirren wie nach einem Fußball, sodass sie nach allen Seiten wegfliegen. Dann trampelt er mit beiden Füßen das Feuer aus und stürzt sich auf Hans Sölheim und prügelt wie ein Wilder auf ihn ein. Hans macht kehrt und läuft weg. Der Russe hinterher. Wir anderen gehen etwas bedrückt wegen der entgangenen Mahlzeit in die Halle zurück. Während wir noch etwas ratlos beisammenstehen, hören wir vom Halleneingang ein lautes „Hallo, Kamerati!“ Wir drehen uns um und blicken ungläubig auf Hans Sölheim und den Natschalnik, die beide Arm in Arm auf uns zukommen. Sie lachen und winken. Vor knapp einer Minute hat der Russe noch wütend auf ihn eingeschlagen, jetzt hält er ihn lachend im Arm! Das ist russische Mentalität! Ich habe solche urplötzlichen Gemütswandlungen mehrfach erlebt. Sie können tödlich sein, wenn der Russe betrunken und bewaffnet ist.[3]

Hinter der Lagerhalle liegt ein langes Ende Telefondraht. So etwas kann man immer gebrauchen, und ich rolle es zusammen. Dann merke ich, dass ist zu lang ist, und Hans Sölheim, der neben mir ist, sagt: „Reiß’ doch ein Stück ab!“ Ich tue es. Abends im Lager sagt zu mir: „Du hast heute Sabotage begangen,“ und als ich ihn verständnislos angucke, fährt er fort: „Der Draht war eine Telefonleitung. Ich hatte sie vorher heruntergerissen!“

Einige Orte des Geschehens nach Ermittlungen des Hrsg. (Luftbild Aug. 43)

Wir entladen Torfzüge am westlichen Stadtrand. Die Güterzüge halten hier, und wir werfen die Torfstücke einfach nach links und rechts auf das freie Wiesengelände herunter. Natürlich alles mit den Händen. Mit uns arbeitet eine Brigade strafgefangener Frauen und Mädchen. Als wir ihnen vorjammern, dass wir hier nun schon 2 Jahre gefangen gehalten würden, da lachen sie nur. 2 Jahre wäre überhaupt keine lange Zeit. Ab 5 Jahre würde es hart, aber 2 Jahre? Nitschewo!

Dicht neben dem Gleis beginnt das eingezäunte Gelände eines Schlachthofes. Wir sehen, dass sich hin und wieder eine Tür öffnet und jemand herauskommt und wieder hineingeht. Mancher hat ja eine Nase dafür, wo es etwas zu holen gibt oder wo man etwas Essbares ergattern kann. So ein bisschen habe ich das auch schon gelernt. Also schlängele ich mich durch ein Loch in dem Drahtzaun an das Haus heran bis zur Tür. Hier brauche ich nicht lange zu warten. Aus der Tür tritt ein stämmiges Mädchen in blutbefleckter Gummischürze. Ich halte ihr schüchtern mein Kochgeschirr entgegen. Sie nimmt es mir wortlos aus der Hand und geht zurück. Nach kurzer Zeit kommt sie wieder und reicht mir mit unbewegtem Gesicht mein Kochgeschirr zurück, gefüllt mit frischem, warmem Blut. Ich verschwinde mit freundlichem Dank. Außerhalb des Schlachthofes, hinter der Halle, unterhalten wir ein Feuer, über dem wir das Blut gleich im Kochgeschirr erhitzen. Innerhalb weniger Minuten haben wir dann ein ganzes Kochgeschirr voller frischer Blutwurst. Manche nehmen es mit ins Lager, um es dort zu verkaufen. Ich habe später noch einmal auf diesem Schlachthof ein paar Tage gearbeitet, allerdings in dem Verwaltungsgebäude. Auch dort bekamen wir mittags in der Kantine ein Essen, saßen aber allein an einem Tisch, getrennt von den Russen.

Wir bauen ein zerstörtes Gebäude (des Textilkombinats?[4]) wieder auf. Das dreistöckige Haus ist schon bis zum Dachstuhl fertig. Nur der Dachstuhl und einige kleinere Maurerarbeiten sind noch zu machen. Ich bin Brigadier der Hilfsarbeiterbrigade. Wir schleppen die Backsteine, immer 3–4 Stück, auf der Schulter zu Fuß 3 Stockwerke hinauf. Eine Schinderei, aber wir lassen es so langsam wie möglich gehen. Der Natschalnik ist ein Ekel. Da er keine Uhr besitzt, erkundigt er sich immer bei mir nach der Uhrzeit. Aber obgleich ich ihm immer die korrekte Zeit angebe, lässt er uns immer 1/4 Stunde länger arbeiten, weil er natürlich wieder vermutet, dass ich ihn belüge. Die Folge ist, dass wir ihn nun wirklich betrügen, und zwar nicht nur mit der Uhrzeit. Da er uns auch nicht von der eingezäunten Arbeits••• S. 311, 2 Bilder •••stelle fortlässt (was allerdings auch nicht gestattet ist), so schleiche ich mich öfter heimlich weg. Zwar brauche ich als Brigadier nicht mitzuarbeiten, aber von der Arbeitsstelle darf ich mich nicht entfernen.

Das Nebengebäude ist ebenfalls dreistöckig. Da die Trennwand zwischen beiden Häusern im Dachgeschoss noch nicht gemauert ist, kann man ohne weiteres auf den Dachboden des Wohnhauses hinübersteigen. Das tat ich ’mal, um mich umzusehen. Hier liegt auf der Bretterlage des Dachbodens eine 10 cm dicke Schlackeschicht. Aber die Bodenbretter sind nicht dicht, und durch die Ritzen kann ich in die Küche hinuntersehen, wo die Hausfrau gerade am Herd herumhantiert. Ich wundere mich, dass sie das leise Rieseln der Schlacke nicht bemerkt, die durch die Ritzen auf dem Küchenfußboden fällt. Oder ist sie es gewöhnt?

Ich habe ein paar Bretter geklaut und steige wieder über den Dachboden des Nachbarhauses in den dortigen Treppenflur. Hier klopfe ich, im 3. Stock beginnend, an jede Wohnungstür und biete meine Bretter zum Mindestpreis an, als Sonderangebot. Aber niemand will sie haben. Sie bekommen wohl zuviel solcher Angebote. Schließlich erbarmt sich eine Frau im 1. Stock und gibt mir 4 Kartoffeln dafür.

Ein paar Tage später versuche ich es noch einmal mit einem 2 m langen Rundholz von 15 cm Durchmesser. Diesmal laufe ich aber, immer in Deckung, über den Hof zum nächsten Häuserblock hinüber. Aber auch hier werde ich überall abgewiesen. Ich muss den Balken einfach im Hausflur stehen lassen.••• S. 311: Haupttext unterbrochen •••[5]

••• S. 312: Haupttext fortgesetzt •••Hans hatte unweit von dem Fotogeschäft (siehe unten)</ref> einen Tabakladen entdeckt, nur 100 m weiter in derselben Straße. Dort gab es sehr preiswerte Zigaretten und billigen Tabak. Er behielt dieses Geheimnis für sich und machte im Lager mit einem kleinen Preisaufschlag ein gutes Geschäft. Als er dann erkrankte, weihte er mich in das Geheimnis ein und beschrieb mir die Lage des Ladens. Nun holte ich die Ware von dort, und zwar immer gleich einen Rucksack voll. Einmal dauerte es etwas länger, bis ich die zahlreichen Päckchen im Rucksack verstaut und mit der Frau abgerechnet hatte. Inzwischen hatte sich eine Schlange von 6–7 Personen gebildet. Aber sie sagten kein Wort und warteten geduldig, bis ich fertig war, obgleich sie mich sicher als Kriegsgefangenen erkannt hatten.

Im Lager hat der Hans einen Landser, der für ihn die Zigaretten verkaufte, gegen 50% Beteiligung. Ich wollte alles allein verdienen und selbst verkaufen. Und während Hans auf seiner Pritsche lag und ruhte, raste ich im ganzen Lager herum, um meine Zigaretten zu verkaufen. Hans hatte seinen gesamten Bestand verkauft, ich dagegen war nicht eine einzige Packung los geworden. Ich bin eben kein Kaufmann. Dann machte ich einen noch größeren Fehler. Ein cleverer Kamerad hatte Hans’ Zigarettenverkäufer beobachtet. Er machte sich an mich heran, und ich erzählt ihm in meiner Harmlosigkeit von dem Laden und nahm ihn eines Tages sogar mit, nachdem er mir heuchlerisch erklärt hatte, dass er an Geschäftemachen überhaupt nicht interessiert sei. Seitdem schnappt uns dieser Gauner durch Großeinkäufe alles weg und hat uns das ganze Geschäft verdorben. Hans hat mir diese meine Dummheit nie verziehen. Seitdem ist unsere Freundschaft merklich abgekühlt.

Flachskombinat.[6] Da ich gerade von meiner Dummheit rede: Hier gleich noch eine, die ich im Flachskombinat begangen habe. Wir arbeiteten hier oft auch in der Nähe der Küche und versuchten natürlich, dort etwas zu essen zu bekommen. In der Küche arbeiteten eine ganze Anzahl von Mädchen unter der Leitung eines Kochs. Den Mädchen war selbstverständlich – wie auch der ganzen Bevölkerung – jeglicher Kontakt mit uns verboten. Dennoch steckten die Küchenmädchen uns gelegentlich etwas zu. Eines Tages hatten sie mir eine ganze Portion Mittagessen zugeschoben. Nachdem ich sie hinter einem Wandschirm ausgelöffelt hatte, ging ich arglos mit meinem leeren Teller an die Theke und übergab ihn einem der Mädchen mit einem lauten „bolschoi sspassiba[7]!“ Das Mädchen wirft einen schnellen Blick zu dem Koch, ihrem Natschalnik, sieht mich dann vorwurfsvoll an und nimmt mir wortlos den Teller ab. Der Koch tat, als hätte er nichts gehört. Ich verschwand jedenfalls schnellstens aus der Kantine. Ich Idiot!

Bildbeschriftung: Smolensker Textilfabrik - Dezember 1943

In einem Raum neben der Küche war eine Nähstube, in der etwa 10 Mädchen beschäftigt waren. Hier tauchte Günter Heuer öfter auf. Jungenhaft und fröhlich kam er herein gewirbelt, kauderwelschte auf Russisch mit den Mädchen, dass sie sich vor Lachen schüttelten. Er war sicher ihr Schwarm.

Hinter der Küche lag ein Abfallhaufen, auf dem ich einen noch frische kleine Mohrrübe entdecke. Ich hebe sie auf, wische sie ab und esse sie auf. Darüber habe ich mich noch lange geärgert. So weit bin ich denn doch nicht gesunken, dass ich von einem Abfallhaufen fressen muss.

Ziegelei. Sie lag ziemlich weit außerhalb der Stadt auf einer breiten, flach gewölbten Hochfläche, frei und offen in baumlosem Gelände. Sie war im Kriege zerstört worden und soll wieder aufgebaut werden. Der Weg dorthin führt über die kahle Hochfläche. Der ungewöhnlich kalte Winter bläst uns den eisigen Wind durch unsere Kleidung, dass wir bis ins Mark erschauern. Wenn wir einmal stehen bleiben müssen, fürchten wir zu erfrieren. Schon der An- und Abmarsch ist eine Quälerei, und die Arbeit auf dieser windigen Höhe ist hart. Wir mauerten und mischten Mörtel bei –20°, denn der russische Ingenieur musste sein Plansoll erfüllen: Laut Plan sollte die Produktion ••• S. 313 •••im Frühjahr anlaufen. Also wird trotz der Kälte einfach weiter gemauert, und wenn nicht genügend Steine herankamen, rissen wir die unteren Lagen der meterdicken Ringmauer des Ofens ab und mauerten sie oben wieder drauf. Es ist unglaublich, aber der Ingenieur hatte nur ein Ziel: Er musste seine Norm erfüllen, seinen Terminplan einhalten, denn im Frühjahr muss die Produktion anlaufen. Wenn dann etwas schief ging, war es nicht mehr seine Sache. Er hatte sein Plansoll erfüllt.

Auf der Ziegelei arbeiten etwa 100 Mann. Das Kommando war äußerst unbeliebt und gefürchtet, denn es gab viele Ausfälle durch Erkrankungen, Erkältungen und Erfrierungen.


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Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft

Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen

  1. Diese Fotokopie ist das einzige Beispiel seiner Art. Alle Original-Postkarten des Autors sind verloren gegangen.
  2. Barcelona, 1943, Musik: Franz Wilczek, Text: Inge Wolf
  3. Cartellieri S. 340 spricht vom russischen Konzept der „weiten Seele“ (широкая натура).
  4. möglicherweise die Häuser der Fabrik „Kalinin“ an der Witebsker Chaussee 46–50, die in genau dieser Zeit von Deutschen erbaut wurden (Mitteilung von Anna Shukowa auf Facebook)
  5. Die im Original hier anschließenden Absätze "Photomaton" und "erster/zweiter Friedhofsbesuch" wurden unter den zutreffenen Daten 8.12.47, 2.11.46 und 1.11.47 gespeichert.
  6. An der Stelle des damaligen Textil- oder Flachskombinats steht jetzt das Einkaufszentrum „Galaktika“.
  7. большое спасибо, großen Dank!