Oktober 1942
Küstenschutz in der Bretagne
GEO & MIL INFO | ||||
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20.–30.: Verlegung zum Küstenschutz nach Lannion | ||||
15.: Infanterie-Regiment 477 wird umbenannt in Grenadier-Regiment 477 Autor wird Ordonnanz-Offizier des Batl. Komp.Fhr. Max Müller[1] Batl.Fhr. Glaser Major 01.11.[2]: Ernennung des Autors zum Leutnant d. Res. |
Wir werden verlegt.[3] Während das marschfertige Bataillon auf der Straße antritt, verabschiede ich mich noch schnell bei meinem Nachbarn, einem Gemüsehändler. Die Tochter des Hauses ist im Keller. Ich treffe sie zwischen Obstkörben und Gemüsebergen. Meine Zeit ist knapp. Der Abschied ist deshalb verhältnismäßig kurz, aber überraschend intensiv. Als wir uns trennen, sagt sie: „Vous êtes formidable!“[4] Ich laufe auf die Straße zurück und besteige mein Pferd. Ich bin etwas müde und daher froh, dass ich nicht marschieren muss.
Wir werden zum Küstenschutz eingesetzt und übernehmen einen Abschnitt an der Kanalküste. Wir erreichen Lannion. Der Ort liegt ca. acht Kilometer von der Küste entfernt und hat die Größe einer Mittelstadt. Die Schützenkompanien mit den ihnen unterstellten Zügen der MG-Kompanie marschieren weiter zur Küste, während der Bataillonsstab mit Teilen der MG-Kompanie in Lannion bleibt. Ich bin als Ordonnanz-Offizier zum Bataillon kommandiert, mache Dienst beim Stab und wohne mit den Offizieren in einem Hotel neben dem Bahnhof. Diese Kommandierung ist ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass ich zur Beförderung eingereicht bin.
Mein Dienst besteht in der Kontrolle fast aller Abteilungen des Bataillons. ••• S. 112 •••Mein täglicher Rundgang beginnt beim Bataillonsgeschäftszimmer und geht dann zu den Unterkünften der MG-Kompanie, der Fahrer, zur Schmiede, zu den Fahrzeugen und weiteren Stellen. Da die einzelnen Abteilungen in der ganzen Stadt verteilt sind, komme ich auf meinen Rundgängen durch die ganze Stadt. Ich verbinde meine dienstlichen Wege mit privaten Spaziergängen und lerne die Stadt und einige Leute kennen.
Da unserem Bataillon hier in der Stadt im Ernstfall auch gewisse Verteidigungsaufgaben zufallen, muss der Ausbau von Verteidigungsstellungen geplant und vorbereitet werden. Auch für diese Aufgaben bin ich verantwortlich. So suche ich also an allen strategisch wichtigen Punkten der Stadt, an Eckhäusern, in der Nähe der Brücken und anderswo nach günstigen Feuerstellungen.
Meine Einkäufe mache ich immer in einer Kolonialwarenhandlung, deren Besitzer, ein älteres Ehepaar mit einer erwachsenen Tochter, aus dem Elsass stammen. Ich unterhalte mich öfter mit ihnen, und sie sind dankbar für mein Interesse an ihren Erzählungen. Sie stecken mir öfter mal etwas Essbares zu von Dingen, die schon selten zu haben sind, denn die Ernährungslage ist auch hier nicht rosig.
Kürzlich war ich bei einem Schneidermeister, dessen Frau unter der Hand mit Schokolade handelt. Ich hatte das irgendwie erfahren und war mal hingegangen. Als ich das Ladengeschäft betrat, erschien die Tochter. Mit dieser zierlichen kleinen Jeannine über Schokolade zu reden, schien mir zu banal. Wir unterhielten uns über andere Themen. Ich wiederholte von nun an meine Besuche, bis ich in die Wohnung gebeten wurde, zu der eine Treppe vom Geschäft direkt ins erste Stockwerk führte. Im Laufe der Zeit habe ich dann öfter Schokolade bekommen, und zwar waren es immer dicke ½-Pfund-Tafeln. Im freien Handel gab es so etwas überhaupt nicht mehr. Als Gegengabe erhielt die Frau von mir Taschenlampenbatterien, die es ebenfalls nirgends mehr gab.
Eines Tages zeigte mir die 17-jährige Jeannine ein Foto der Familie mit einem deutschen-Soldaten. Ich erkenne in dem Soldaten einen Studienkameraden aus Berlin, mit dem ich einige Ausbildungssemester als Sportphilologe und gemeinsam das zweite Referendarjahr an der Menzel-Schule in Berlin-Tiergarten absolviert habe.
Auf meinen Dienstwegen treffe ich öfter eine junge Frau, die ihr Baby im Kinderwagen spazieren fährt. Eines Tages grüße ich sie und spreche sie an. Von nun an haben wir uns immer eine Weile unterhalten, wenn wir uns begegneten. Inzwischen habe ich gesehen, wo sie wohnt. Als ich ihr dann aber eines Tages bis fast vor die Wohnungstür entgegenkam, wurde sie böse. Das wollte sie absolut nicht haben. Ich hätte es mir denken können.
Gerade will ich das Haus verlassen, treffe ich einen ehemaligen Kompanieangehörigen aus Russland. Er ist jetzt bei einer Verpflegungsstelle tätig, die hier im Erdgeschoß des Hauses untergebracht ist. Ich gehe mit dem Soldaten hinein, unterhalte mich eine Weile mit ihm und ziehe dann mit einem anständigen Ende Wurst wieder ab.
In dem hiesigen Gefängnis ist auch unser Wehrmachtsgefängnis untergebracht. Dessen Personal untersteht ebenfalls meiner Kontrolle. Bei einem Inspektionsgang treffe ich auf dem Flur einige französische Frauen, die hier arbeiten. Da ich jede Gelegenheit zum Französisch-Sprechen wahrnehme, spreche ich sie an und höre, dass eine von ihnen bei der AEG in meinem Geburtsort Berlin-Oberschöneweide gearbeitet hat. Das gab natürlich Stoff für weitere Unterhaltung in ihrer Wohnung. —
Unsere Hotelwirtin ist sehr nett, aber ich bekomme sie selten zu sehen. Nur mit dem Zimmermädchen, das in Max Müllers Burschen verliebt ist, habe ich gelegentlich ein paar Worte gewechselt.
Es ist frisches, kühles Herbstwetter. Da Kohlen knapp sind, wird noch nicht geheizt. Mein Zimmer ist daher nicht gerade gemütlich. Mir macht das nichts aus, aber das Zimmermädchen, das ich gerade zu einem außerdienstlichen Besuch empfangen hatte, ist gleich wieder gegangen. Weidmannspech. —
Der Bataillonsführer, Hauptmann Glaser, ist zum Major befördert worden. Er freut sich mächtig und gibt ein Festessen für die Offiziere des Bataillonsstabes. Als Ordonnanzoffizier gehöre ich dazu, obgleich ich erst Feldwebel bin. Ich sitze neben dem Kommandeur. Da bemerkt er, dass ich Linkshänder bin. Da hat er wieder einen Grund, etwas an mir zu bemängeln. Er befiehlt mir, das Messer in die rechte Hand zu nehmen.[5] Befehl ist Befehl, und ich beginne, das Bratenstück herzhaft und ••• S. 113 •••furchtlos mit der rechten Hand durchzusäbeln. Da rutscht es mir unter dem Messer weg und plumpst dem Kommandeur auf den nagelneuen Majorsrock. Der Fettfleck ist echt, denn die Bratensauce ist aus echter zerlassener Butter hergestellt. Die anderen Offiziere beugen sich über ihre Teller. Sie gönnen es dem Major, denn sie können ihn alle nicht leiden. Andrerseits sind sie froh, dass es ihnen nicht passiert ist. Mir ist die Situation natürlich peinlich, und ich entschuldige mich, obgleich auch ich dem beklecksten Rock keine Träne nachweine. Der Kommandeur sagt nur: „Das kann mal passieren“, und dann schweigt er sich aus. Vielleicht überlegt er sich mal, ob er in Zukunft solche dämlichen Befehle lieber unterlässt. Er hat dauernd etwas an mir auszusetzen. Einmal hat er mich angemeckert, weil meine Mütze zu schief saß.
Der Kommandeur wohnt nicht mit uns im Hotel, sondern in einem Privathaus. Dort ist einer der Räume zu einem bescheidenen Kasino umgestaltet, in dem wir auch jetzt wieder zusammensitzen. Der Major ist überglücklich über seine Beförderung, „Das habe ich mir immer gewünscht. Bis zum Major wollte ich es noch bringen“, erzählt er. Die Offiziere nützen die gehobene Stimmung des Majors aus, um ihm ein kleines Geheimnis zu entlocken, nämlich Maxens Beförderung zum Oberleutnant. Nach einigem Zögern gesteht der Kommandeur, dass sie perfekt sei. Da löst unser Bataillonsarzt, der mit Max besonders gut befreundet ist, einen seiner Sterne von seinem Schulterstück und heftet ihn bei Max an.
Der Major kann seine Herkunft doch nicht verleugnen. Auch er, obgleich von bäuerlicher Herkunft, hat ja als 12-Ender in der Reichswehr gedient, und als alter aktiver Berufsfeldwebel ist er mit den Geschäften eines Hauptfeldwebels gut vertraut. Nun macht er sämtliche Schreibstuben des Bataillons durch dauernde Kontrollen unsicher. Er hat sich daher zur Zeit den Spitznamen „Bataillonsspieß“ eingehandelt. Seine Spitznamen wechseln aber häufig.
Jetzt ist dem Bataillonskommandeur etwas höchst Unangenehmes passiert. In der Wohnung des Kommandeurs ist ein Zimmermädchen beschäftigt, das gleichzeitig auch den Ordonnanzen im Kasino hilft. Eines Tages guckt die Ordonnanz aus reiner Neugierde einmal in die Aktentasche des Mädchens und findet darin den Plan unseres örtlichen Telefonnetzes, der geheim ist. Das Mädchen wird sofort verhaftet, aber auch der Kommandeur bekommt Ärger, denn er hat den Plan in unbegreiflichem Leichtsinn immer offen auf dem Nachttisch liegen, um ihn notfalls nachts gleich zur Hand zu haben. Die Sache läuft für den Kommandeur nur deshalb noch einmal glimpflich ab, weil er beim General „eine gute Nummer“ hat. Immerhin bestätigt die Angelegenheit wieder einmal zwei Tatsachen: 1.) Die geradezu sträfliche Sorglosigkeit der Deutschen gegenüber subversiver Tätigkeit und überhaupt mangelnde Wachsamkeit und mangelndes Misstrauen gegenüber dem Feind. 2.) Auch in Frankreich ist der Widerstand aktiver, als es nach außen hin scheint.
Die Kompanien, die hier zum Küstenschutz eingesetzt sind, haben ein herrlich ruhiges Leben. Die meisten Stellungen und Quartiere liegen in den Küstenorten, die ja alle Badeorte sind. Die Männer sind in bequemen Pensionen untergebracht, und die Offiziere wohnen geradezu komfortabel in den besten Häusern. Selbst die Bunker und Stellungen außerhalb der Ortschaften liegen in einer romantischen Landschaft auf steilen Klippen hoch über dem Meer oder in den herrlichen Buchten dieser reichgegliederten Felsenküste.
Dass wir jedoch den Krieg nicht ganz vergessen, dafür sorgen die französischen Widerstandskämpfer, die immer wieder einmal einen unserer abgelegenen Stützpunkte überfallen. Auch britische Agenten springen hinter der Küste ab. Sie sollen im Falle einer Invasion den Widerstand der französischen Bevölkerung organisieren und Sabotageakte durchführen. Von Zeit zu Zeit finden wir Fallschirme auf den Äckern und Wiesen. Kürzlich ist so ein Agent festgenommen worden. Er hatte sich bei einem Bauern als Knecht getarnt. Kämpfer, Soldaten einer Nation müssen nach internationalem Recht eine entsprechende Uniform tragen, wenn sie als Soldaten behandelt werden wollen. Tun sie es nicht und agitieren in Zivil, müssen sie als Saboteure behandelt werden. Kein Mensch kann es einer kriegführenden Macht verübeln, wenn sie Saboteure und zivile Heckenschützen mit aller Härte bekämpft.
Wir haben heute einen Marinestützpunkt besichtigt, auf dem ein riesiges Funkmess- und Horchgerät steht.[6] Mit diesen Geräten kann man die britischen Flugzeuge bereits sehen, wenn sie drüben starten. So wird uns erzählt. Den Briten sind diese Geräte ein Dorn im Auge. Deshalb hat ein britischer Stoßtrupp bereits einen ähnlichen Stützpunkt überfallen, ein Stück aus dem Gitterwerk eines Horchgerätes herausgeschnitten und mitgenommen.[7] Die Engländer ••• S. 114 •••sind geradezu Stoßtruppspezialisten. Sie haben schon mehrere unserer Stützpunkte überfallen.
Einer unserer Feldwebel steckt in einer üblen Affäre. Er gehört zu einem Kommando, das auf einem Marinestützpunkt die französischen Arbeiter überwacht, die dort gewaltige Betonbauten mit Panzerkuppeln für schwere Küstenartillerie installieren. Gestern nun entstand aus ungeklärten Gründen ein Tumult. Ein Kamerad rief dem Feldwebel zu: „Pass auf!“ Der drehte sich blitzschnell um, glaubte zu sehen, dass ein hinter ihm stehender Arbeiter einen Stein in der Hand hatte, riss seine MPi hoch und schoss. Der Arbeiter war auf der Stelle tot. Er ist Vater von vier Kindern. Der deutsche Bauleiter ist empört und will den Feldwebel vor Gericht bringen.
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
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- ↑ sicher wie zuvor vertretungsweise für Degener
- ↑ Datum der Urkunde
- ↑ vom 20. bis 30.10.1942 gem. Benary S. 110 und KTB AOK 7 Frame 000166–000190
- ↑ Sie sind wunderbar/großartig/sensationell!
- ↑ „Essen Sie rechts!“ soll er gemäß den mündlichen Berichten des Autors wörtlich gesagt haben.
- ↑ davon gab es sehr viele, s. Funkmeß-Stellungen/-Anlagen, wobei sich Flugabwehreinheiten der Marine nicht in der nächsten Nähe befanden
- ↑ Operation Biting gegen die Funkmessstellung bei Bruneval am Cap d’Antifer vom 27./28. Feruar 1942 (Karl Ries: Luftwaffe Photo-Report 1919-1945, Motorbuch Verlag Stuttgart 1984, S. 198; Otto Karl Hoffmann: Ln - Die Geschichte der Luftnachrichtentruppe, Band II, Kurt Vowinckel Verlag, Neckargemünd 1973, S. 46ff; Dokumentar-Video „The Bruneval Raid“)