12. November 1941
GEO INFO | ||||
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(Isjum) |
Am nächsten Morgen trete ich aus dem Haus und traue meinen Augen nicht: Es ist eiskalt. Buchstäblich über Nacht ist die Schlammperiode in hartes Winterwetter umgeschlagen.[1] Der gestern noch von unseren Fahrzeugen zerwühlte Schlamm ist steinhart gefroren. Unsere Fahrzeuge sind in fußtiefem Morast festgefroren und nicht mehr zu bewegen. So überraschend bricht der Winter herein, und das ist in Russland keine Seltenheit. Mitte November[2]: Minus 15 Grad Frost. Und dabei blieb es.
Gestern habe ich die Granatwerferstellungen besucht, die ich am Hinterhang des Berghanges angelegt habe. Heute gehe ich über den gewaltigen breiten Rücken des langgestreckten Hanges zu meinen MG-Stützpunkten. Ein eisiger Wind pfeift über die Höhe. Die MG-Stellungen sind so weit vorgeschoben, dass sie einen großen Teil des Doneztales einsehen können. Schräg unter uns liegt es. Ein kilometerbreites Tal, eine weite Ebene mit ausgedehnten Wäldern. Links[4] in der Ferne liegt Isjum in einer grossen Flussschlinge des Donez.
Leider sind wir nicht allein hier oben. Der Bergrücken ist selbst hier auf der Höhe noch mindestens einen Kilometer breit, so dass man beinahe von einer Hochebene sprechen kann. Und auf der Ostseite dieses breiten Rückens befinden sich russische Stellungen, und zwar in der Nähe eines trigonometrischen Punktes[5]. Manchmal sehen wir drüben einen Iwan herumlaufen. Eines Tages ließ ich die Stellung mal von unseren Granatwerfern beschießen, wobei uns der T.P. ein guter Richtpunkt war. Die Iwans haben das sofort bemerkt und rissen den T.P. ab.
Unsere MG-Nester hier oben bestehen nur aus kleinen rechteckigen Gruben von 40 cm Tiefe. Die Ungarn hatten sie noch gegraben. Über diese Gruben haben die Männer ein Dach aus Strohgarben gestellt. Darunter haben sie wegen der bitteren Kälte noch zusätzlich ein kleines offenes Feuer unterhalten. Das konnte natürlich nicht lange gut gehen, und tatsächlich brannte ihnen eines Tages das Dach über dem Kopf ab. Nun frieren sie wieder.
MG- und Werferbedienungen bleiben jeweils eine Woche hier oben auf der windgepeitschten Höhe. Dann werden sie abgelöst und ziehen ebenfalls für eine Woche ins Dorf, wo sie sich in ihrem warmen Quartier erholen können. Ich selbst wohne mit Feldwebel Spremann in einem kleinen Häuschen, das nur aus Stube und Küche besteht. Die Wohnstube wird zu fast einem Viertel von dem großen lehmverputzten Ofen ausgefüllt, auf dem sich auch ein Schlafplatz befindet.
Diese warmen Schlafplätze sind bei den eiskalten russischen Wintern eine praktische Erfindung (siehe nebenstehende Skizze).
Wir wohnen zu viert in dem Häuschen. Der junge Ukrainer schläft im Bett, seine Frau auf der Ofenbank und wir zwei Feldwebel auf einer Strohschütte auf dem Fußboden.
Das Dorf ist ein langgestrecktes Reihendorf. In der Mitte des Dorfes fehlen ein paar Häuser, so dass es eigentlich zwei Ortsteile sind. Die Dorfstraße ••• S. 52 •••ist in einem fürchterlichen Zustand. Die tiefgefurchten Wagenspuren sind steinhart gefroren. Man kann sich die Knochen brechen.
Tagsüber bin ich viel unterwegs. Entweder besuche ich die weit auseinanderliegenden Stellungen und Stützpunkte, oder ich gehe mal zu den Männern in die Quartiere. Eines Tages werde ich in ein Haus gerufen, das meinem Quartier gegenüber liegt. Einer meiner MG-Schützen war, als er ins Nachbarhaus gehen wollte, auf der Dorfstraße von einer verirrten Kugel getroffen worden. Nun liegt er auf dem Fußboden der Bauernstube. Sein Atem geht röchelnd und dem blutgefüllten Mund entringen sich von Zeit zu Zeit gurgelnde und schnarchende Laute. Der Arzt ist benachrichtigt, aber der Soldat ist wohl nicht zu retten. Ich schicke die Männer in den Nebenraum, denn der Todeskampf dieses armen Kameraden ist furchtbar anzuhören. Die Gesichter der Stubenkameraden scheinen gleichgültig, aber sie sprechen die ganze Zeit kein Wort. Einer saß am Tisch und schrieb einen Brief.
In meinem Nachbarhaus herrscht eine andere Atmosphäre. Hier erscheint öfter ein sehr hübsches, schwarzhaariges Mädchen mit Madonnenscheitel, um ihre Tante zu besuchen. Ich habe mich auch mit ihr unterhalten. Sie ist sehr anschmiegsam.
Am weitesten entfernt liegt Unteroffizier Sasse mit seiner MG-Bedienung. Es ist eine gefährliche Ecke, die er bewacht. Hier mündet ein kleines Quertal, durch das die Iwans oft im Schutze der Nacht einzudringen versuchen. Die letzten Häuser unseres Dorfes stehen hier bis an den Talausgang heran, so dass der Iwan beim Eindringen in das Tal auch schon in den ersten Häusern sitzt. Die Bewohner haben deshalb diese Häuser auch schon verlassen. Es ist ihnen zu brenzlich. Diesen Taleingang flankiert Sasse nun mit seinem MG von der benachbarten Höhe. Er sitzt am oberen Rand des Talhanges in Vorderhangstellung und hat einen guten Überblick über den Taleingang, kann aber andrerseits auch vom Russen gesehen werden.
Editorial 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 Epilog Anhang |
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Eine Art Bilanz Gedankensplitter und Betrachtungen Personen Orte Abkürzungen Stichwort-Index Organigramme Literatur Galerie:Fotos,Karten,Dokumente |
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. Erfahrungen i.d.Gefangenschaft Bemerkungen z.russ.Mentalität Träume i.d.Gefangenschaft Personen-Index Namen,Anschriften Personal I.R.477 1940–44 Übersichtskarte (Orte,Wege) Orts-Index Vormarsch-Weg Codenamen der Operationen im Sommer 1942 Mil.Rangordnung 257.Inf.Div. MG-Komp.eines Inf.Batl. Kgf.-Lagerorganisation Kriegstagebücher Allgemeines Zu einzelnen Zeitabschnitten Linkliste Rotkreuzkarte Originalmanuskript Briefe von Kompanie-Angehörigen |
- ↑ am 11. geringer Nachtfrost, am 12. geringer Frost, am 13. starker Frost; durch Frost Verkehrslage gebessert (KTB 257. I.D., NARA T-315 Roll 1804 Frame 000318)
- ↑ im Original „Oktober“, unklar ob irrtümlich oder als Beispiel
- ↑ Russland 1:100.000 Blatt M-37-99 Isjum bei MAPSTER
- ↑ bei Blickrichtung zur Front, genau genommen nordnordwestlich; im Original irrtümlich „rechts“
- ↑ Ein hölzernes Vermessungsgerüst, mit dem der eigentliche trigonometrische Punkt (T.P.) signalisiert wird, wurde im Volksmund selbst auch als T.P. bezeichnet.
- ↑ Originaltitel: SOWJETKULTUR // Kriegsberichter Hensel, Erich Gutjahr Bildverlag, Berlin, Bestell-Nr. 91
Ich kann mich leider nicht erinnern, ob noch mein Vater diese Postkarten erworben und dem Tagebuch beigelegt hat oder ob ich sie selbst entdeckt und gekauft habe, lange bevor ich mit der eigentlichen Bearbeitung dieses Tagebuchs begann.